Letzter Tag in Shanghai. Es drückt die Hitze, es drückt die Langeweile. So viele aufregende Eindrücke, so viel gemacht, doch jetzt, nach zehn Tagen, hatte ich alles gesehen. Männer, die auf Bambusgerüsten turnend in schwindelerregender Höhe ihrem Bauberuf nachgehen, Frauen, die auf der Straße grüne essbare Duschköpfe verkaufen (die Fruchtkapsel der Lotuspflanze, wie sich später herausstellte), Knochenmark, das man zu Mittag vorgesetzt bekommt (wieder Lotus, diesmal als Wurzel, wer hätte das gedacht?), Schafspenisse auf Spießen (und zwar die echten), den Bund Sightseeing Tunnel mit seiner futuristischen Gondel. Alles mitgemacht, alles angeschaut – sogar von diversen kleinen Frauen mit Sonnenschirmen auf meiner Augenhöhe fast die Augen ausgestochen bekommen. Wenn mich hier noch etwas Spannendes erwartet, dann höchstens am People’s Park, im Zentrum Shanghais.
Ich steige aus und gehe in Richtung – ja, wohin eigentlich? Das fragt mich eine junge Chinesin, von der ich nach der Auffahrt aus dem U-Bahn-Schacht angesprochen werde. Wohin ich will, woher ich bin und was ich mir bereits angeschaut hätte. Gute Frage. Weshalb will sie das überhaupt wissen? Ich bleibe stehen, um nachzudenken, werde beim Überlegen von ihrem Begleiter unterbrochen, der auf mein weißes T-Shirt zeigt, ein Andenken aus Barcelona. In geschwungenen regenbogenfarbenen Lettern steht dort – na, was wohl – „Barcelona“ geschrieben. Der V-Ausschnitt ist kunstvoll abgerundet. Der sympathisch grinsende Jüngling deutet auf das Shirt. „Oh, what a nice t-shirt! Where did you buy it?!“ Endlich einer, der Ahnung hat und die richtigen Fragen stellt. Das Eis ist gebrochen.
Ich erzähle der Chinesin, dem jungen Mann und dem pummeligen Mädchen, das mit ihnen unterwegs ist, dass dies mein letzter Tag in der Stadt ist, bevor ich nach Peking fliegen werde, und dass ich alles besichtigt hätte, was ich besichtigen wollte. Im Gegenzug lassen mich die drei wissen, sie seien aus der Umgebung, aus Wuxi, und wollten sich die Metropole anschauen. Der junge Mann deutet lächelnd auf den großen Fotoapparat, der um seinen Hals hängt. Wuxi, das ist ja großartig. Kurz vor meiner Abreise hatte ich einen Artikel lektoriert und in dem hat ein Kunde von uns eine Fabrik eröffnet – in Wuxi! Das konnte kein Zufall sein. Die drei sind den zweiten Tag hier. Sie plappern fröhlich durcheinander, erzählen, wo sie schon gewesen seien, der junge Mann hat sogar ein paar Brocken Deutsch parat; der Rest wird vom ersten Mädchen gedolmetscht. Die Verzückung ist perfekt.
Die Freunde sind gerade auf dem Weg zu einer Teezeremonie – vielleicht will ich mich ja anschließen? Sie haben auf Anhieb so etwas wie Sympathie mir gegenüber empfunden, und, na ja, warum sollten sie mich nicht einfach mitnehmen? Vorausgesetzt, ich hätte nichts anderes vor. Ja, warum nicht? So spontan wie hier und heute kann ich vielleicht nie wieder sein, immerhin bin ich Steinbock – der Planer unter den Sternzeichen. Ich stimme gutgelaunt zu.
Wir machen uns auf den Weg. Die drei bewundern meine blasse Haut – im Gegensatz zur Begeisterung für das Barcelona-T-Shirt kann ich das nicht ganz nachvollziehen. Sie bewundern meine elegante Nase – war mir noch gar nicht aufgefallen –, meine Brille („Auch aus Barcelona, hahaha!“), meinen Discounter-Rucksack. Wir gelangen an ein Einkaufszentrum, suchen dort einen Hinterraum auf, der durch mehrere dünne Schiebewände unterteilt ist, werden in einen der abgeschotteten Räume gewiesen, in dem Tassen, Kännchen und Teepackungen auf dem Tisch stehen. Die Schiebetür wird geschlossen.
Die Dame, die uns hereingelassen hat, erklärt uns in ruhiger Stimme – die erste Asiatin überträgt es ins Englische –, dass wir nun sechs verschiedene Teesorten probieren werden, und reicht uns eine Preisliste. Es ist ganz einfach: Der Tee kostet 49 Yuan. 49 Yuan insgesamt oder pro Tee? Denke ich, behalte die alberne Frage jedoch für mich. Auf der Zickzackbrücke im pulsierenden Touristenzentrum gab es den Jasmintee für 30 Yuan. Ich kalkuliere fix: Okay, wenn es hart auf hart kommt und jede Teesorte 49 kostet, werde ich es überleben.
Die Teezeremonie beginnt. Die Frau fängt an zu sprechen, Chinesin Nummer eins setzt mit dem Dolmetschen ein: Zuerst einmal wird der Teegott, ein steinerner Frosch, der vor uns steht, mit Tee übergossen. Damit würde man das lebenslange Glück anziehen. Die Teeanimationsdame gießt den Tee in vier kleine Tässchen, nicht viel größer als ein Fingerhut. Sie gießt ihn hinein, doch da! Sie schüttet ihn wieder weg. Man trinke erst nach dem zweiten Aufguss, bemerkt meine Begleiterin. Und zwar so: Sie hält den Fingerhut mit drei Fingern, zwei oben und einen unten. Wir alle machen es ihr nach. Schon geht es weiter mit dem zweiten Tee, was ich nur am Rande mitkriege, weil das pummelige Mädchen zu meiner Linken wissen will, ob ich einen Freund habe. Als ich verneine, verdüstert sich ihre Miene. Das täte ihr furchtbar leid, dolmetscht ihre Kameradin. Sie äußert ihr Mitgefühl, legt ihre Hand auf meinen Unterarm, schaut bedrückt. Mir ist deprimiert zumute, so, als hätte ich noch nie einen Freund gehabt oder als wäre ich nicht zehn Jahre verheiratet gewesen. Doch ihr Gesicht hellt sich auf. „You will find a boyfriend soon“, übersetzt die Erste ihre aufmunternden Worte. Maybe sogar in China! Helles Lachen aus zwei Mädchenkehlen. Das Pummelchen zeigt auf den jungen Mann: „Alex!“ Er sei Single. Wär das nicht was?
Wieso eigentlich nicht? Recht passabel sieht er ja aus. Was er denn beruflich machen würde, frage ich. Alex ist Designer. Wooow. Was er designt, will ich neugierig wissen. Er designt Klimaanlagen, informiert er mich mittels Dolmetscherin. Interesting.
Okay, China liegt zwar am anderen Ende der Welt, aber das mit dem Visum für Deutschland dürfte man irgendwie hinbekommen. Ich würde gern über Details nachdenken, doch das pummelige Mädchen fragt mich über meine Eltern und meine Arbeit aus. Inzwischen sind wir beim Jasmintee angelangt. Auch dieser wird in ein fingerhutähnliches Gefäß gegossen, doch nein, wir dürfen noch nicht davon probieren. Die Zeremonienmeisterin legt jeweils eine kleine Untertasse drauf, stellt Fingerhut nach Fingerhut mitsamt Liliputaneruntertasse auf den Tisch und dreht jede der Untertassen im Kreis, sodass ein leichter Unterdruck entsteht. Wir werden angewiesen, unsere Untertassen vorsichtig anzuheben, sie zur Seite zu legen und mit dem Finger langsam am Rand der Untertasse entlangzufahren. Erst dann dürfen wir trinken. Und uns anschließend das nachdampfende Tässchen zuerst unter das linke, dann unter das rechte Auge halten – Jasmintee sei gut für die Augen. Das Mädchen, das mich zuerst angesprochen hat, rollt ihren geleerten Fingerhut über Stirn und Wangen – das wirke faltenmindernd. Da ziehe ich doch gleich mit.
Alex fragt nach meiner E-Mail-Adresse und ich schlage vor, dass wir alle Adressen tauschen. Im allgemeinen Aufschreibtrubel erfahre ich, dass das Dickerchen Qianqian heißt. Und die dritte im Bunde ist Linda. Wir sind jetzt beim grünen Tee, der schlank macht. Linda und Alex zeigen auf die Pummelige: „This is for youhu!“ – sie brechen in Lachen aus. Es folgt ein Lycheetee – was es nicht alles gibt! Schmeckt aber lecker. Ich kippe das kleine Tässchen in einem Zug hinunter und bekomme sogar nachgeschenkt. Qianqian zeigt mir, wie man meinen Namen in chinesischen Zeichen schreibt, und spricht mir vor, was „Ich liebe dich“ in ihrer Sprache heißt. Linda zeigt mir auf dem Handy ein Foto ihrer Nichte. Alex erkundigt sich, ob ich Computerspiele mag. Geht so. Er schon. Er macht vor, wie man im Chinesischen mit den Fingern Zahlen darstellt.
Wir sind beim Früchtetee, sehr bunt und süß im Abgang. Qianqian möchte, dass ich schätze, wer von den dreien am ältesten sei. Um niemanden zu kränken, will ich mich nicht äußern, tippe nach mehrmaligem Drängen aber intuitiv auf Linda, was mit schallendem Gelächter quittiert wird. Ja! Tatsächlich! Linda ist die Älteste. Wie konnte ich das nur wissen?! Qianqian ist mit 19 die Jüngste, und ich, die ich mit meinen 34 Jahren fast zum alten Eisen gehöre, schweife, als die Sprache auf mein Alter kommt, ab und deute stattdessen auf die kleine steinerne Kugel, die gerade mit heißem Wasser übergossen wird. Sie geht allmählich auf und entfaltet sich zu einer schönen Teeblume, gar nicht aus Stein. Weil das so hübsch aussieht, will ich ein Foto machen, doch die Zeremonienmeisterin weist darauf hin, dass dies ein heiliger Ort sei, an dem man keine Bilder machen dürfe. Och, wie schade. Stattdessen erklärt sie uns, dass eine Teeblume für vier Personen reiche. Wir freuen uns wie kleine Kinder, weil wir ja genau vier Personen sind, und probieren vom Blumentee.
Nach einer knappen Stunde ist die große Verkostung zu Ende. Die Zeremonienmeisterin möchte von uns wissen, welcher Tee uns am besten geschmeckt hat. Linda fand den Lychee- und den grünen Tee am besten und kauft jeweils eine Packung davon. Alex entscheidet sich für den Früchte- und für den Ginseng-Tee; ich fand Lychee und Jasmin am besten und möchte gern ein Päckchen Jasmintee haben, der laut Preisliste, die wieder vor uns auf dem Tisch gelandet ist, 150 Yuan kostet, und drei Teeblumen für je 30 Yuan. Die Zeremonienmeisterin verschwindet im Nebenraum und kommt mit dem abgepackten Tee wieder. Und der Rechnung. Ich sehe einen Betrag von knapp 1200 Yuan, einen weiteren über 1700 und werde blass. In einem ruhigen Singsang erläutert die Frau, die 1200 Yuan seien der Preis für die Teeprobiererei und für die Raumnutzung, der höhere Betrag der Preis für die gekauften Tees und Teeblumen.
Während mein Gehirn noch am Rattern ist, möchte Alex wissen, was wir mit der Rechnung machen. Wie – was machen wir mit der Rechnung? Was meint der? Ich blicke voll stiller Panik von einem zum anderen und vermeide es, die Zeremonienmeisterin anzuschauen.
Alex hat auch schon einen Vorschlag parat: Da Qianqian die Jüngste von uns allen ist, sollten wir Älteren sie einladen. Findet er. Ich spüre, wie drei Augenpaare auf mir ruhen, und stimme schnell zu. Qianqian bedankt sich überschwänglich bei uns allen. Aus einer Schockstarre heraus kombiniere ich, wie ich aus der Geschichte herauskomme. 3000 Yuan – oder wie viel die von mir haben wollen – habe ich nicht im Portemonnaie. Hilfsbereit zeigt Alex mir, wo der nächste ATM, der Geldautomat, zu finden ist. Ich denke an Flucht, verwerfe den Gedanken gleich wieder, weil wir uns fernab des Einkaufstrubels in einem Hinterzimmer befinden. In solchen Hinterzimmern – das weiß ich aus Filmen – ist schon so einiges passiert. Ich schließe die Augen und aus weiter Ferne dringt zu mir eine Stimme durch, die mir zuflüstert, dass man von mir nur 670 Yuan fordert. Die Stimme gehört Linda. Nur 670! Das ist die Rettung; ich ahne ein Happy End. Es interessiert mich auch nicht die Bohne, wie die Summe zustande kommt. Linda blättert 445 Yuan hin. Keine Ahnung, was Alex zahlt.
Aber natürlich zahlt der gar nichts, denn langsam ist in mein überfordertes Hirn durchgesickert, dass hier etwas nicht stimmt. Deshalb wundert es mich nicht sonderlich, als die Zeremonienmeisterin bedauert, mir meine 700 Yuan nicht wechseln zu können. Ob sie den Rest nicht einfach behalten könne, fragt sie. Ich lächele matt und winke ab. 3 Euro hin oder her. 30 hätte ich ihr bestimmt auch gegeben, damit sie mich gehen lässt. Behalt die Kohle ruhig, werd glücklich damit. Zum Abschied überreicht sie jedem von uns einen Glücksbringer, den man sich an die Tasche hängen kann. Aber nein, ich bekomme gleich zwei. Den zweiten überreicht mir feierlich Qianqian – weil ich so überaus freundlich war. Ich danke ihr und versuche zu lächeln, trotte kurz darauf den dreien hinterher, die unten noch ein wenig „Window Shopping“ machen wollen. Im Tunnel zur U-Bahn bleiben die Mädchen vor Schuhen und Halsketten stehen. Alex erzählt in seinem gebrochenen Englisch, dass er München und das Oktoberfest kennen würde. Und sogar Warschau. Linda kann auf Polnisch „Dziękuję“ und „Na zdrowie“ sagen. Donnerwetter. Die Pummelige muss zur Toilette und verabschiedet sich von mir. Nach wie vor in Trance höre ich, wie die anderen beiden mich fragen, ob sie mich zur U-Bahn bringen sollen. Ist wohl besser so. Sie helfen mir dabei, ein Ticket zu lösen, verabschieden mich mit einem „Nice to meet you“, und ich passiere die Schranke.
Passiere sie wieder nach dem Aussteigen, an meiner Station. Ich will ins Hotel. In der Straße dorthin springen mich – genau wie an allen übrigen Tagen und zu allen anderen Uhrzeiten auch – diverse Händler an und wollen mir Ramsch verkaufen („Lady, want a watch? A bag?“). Ein gebelltes „No!“ ist heute meine einzige Antwort. Irgendwie schlage ich mich durch bis ins Hotel, betrete mein kühles Zimmer, stehe in dem ruhigen, abgeschiedenen Raum im zwölften Stock und komme dort zu mir.
Ich pfeffere die Glücksbringer in die Tonne. Welch ein Hohn! Es folgen Teeblumen und Tee – wer weiß, was da für Zeugs drin ist. Drogen wohl kaum, zu teuer, aber eventuell ja zermahlener, parfümierter Bahngleisschotter. Sieht schon so verdächtig aus. Ich setze mich aufs Bett. Je mehr ich darüber nachdenke, wie viel Geld ich in den letzten Tagen – vor allem heute – ausgegeben habe, desto unruhiger werde ich. Was, wenn meine Urlaubskasse nicht bis zum Schluss reicht? Was, wenn mir Ähnliches wieder passiert? Die Stadt ist voller Halunken, das stand schon im Reiseführer. Was, wenn am Flughafen oder beim Auschecken aus dem Hotel noch eine Verarschungspauschale auf mich wartet? Mit dieser Vorstellung lege ich mich, um 70 Euro erleichtert, ins Bett und schlafe erschöpft ein.
Nicht nur Teezeremonien sind lustig, auch beim Schlüsselnachmachen kann man etwas erleben: Ein Schlüsselerlebnis. Und natürlich hat auch Peking etwas zu bieten, nämlich die Schweinegrippe und die berühmte Pekingente. Wenn euch China eher sprachlich interessiert – hier geht es zum Sprachunterricht über Tisch und Stuhl: Man-wah und ruff uff’n Tisch.
Wenn du aber erfahren möchtest, wie es sich in China lebt, lies dieses Interview: „Wie im Paradies“: Herr Müller in China
Titelbild: © iStock/kynny
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