Nackt in der großen Stadt

Bei der Taxifahrt vom Flughafen ins Hotel weißt du bereits, ob dir ein Ort gefällt. Und das tat er. Es war nicht wie in Italien oder Kroatien, wo hier und da mal eine Palme herumstand: Ich fuhr gerade an einem ganzen Palmenwald vorbei, der sich neben der Autobahn erstreckte. Der Taxifahrer lachte darüber, dass ich meiner Freundin um 3 Uhr morgens Deutschlandzeit eine SMS geschickt und sie damit aufgeweckt hatte. Man kann sich ja mal bei der Berechnung der Zeitverschiebung Deutschland, Dubai und Malaysia irgendwie vertun.

Zum Glück war es bewölkt. Die Wärme ließ sich aushalten – solange man nichts Wesentliches tat. Bewegte man sich doch, wurde es unangenehm: die Erkenntnis nach meinem Sondierungsspaziergang, bevor ich wieder mein Hotel aufsuchen, mich ins Bett hauen, eine Baldrianpille schmeißen und bis zum Morgen durchschlafen konnte. 18 Stunden Flug, uff.

Die Suche nach einer Unterkunft hatte sich ziemlich schwierig gestaltet. Vor Ort sah ich auch, warum. Hier im Zentrum gab es nur Luxusetablissements a la Pullmann und Ritz. Mittelklassehotels? Fehlanzeige. Meins hatte zwar keinen bekannten Namen vorzuweisen, konnte vom Ambiente her jedoch ganz gut mithalten, auch wenn es noch nicht fertiggestellt war, in den Fluren hingen lose Kabel von der Decke hingen. Selbstverständlich hatte es einen Außenpool – oder waren es zwei? Im Zimmer eine Sitzecke mit Ledersessel, schwere dunkle Vorhängen, Waschmaschine und Herd. Es entpuppte sich dennoch als Alptraum.

Abgesehen von der Tatsache, dass draußen eine Tag-und-Nacht-Baustelle tobte – man zog nebenan gerade noch so ein Ding hoch – und ich mit Ohrstöpseln schlafen musste, wurden meine Gehörgänge frühmorgens mit einer Bohrmaschine traktiert, die in unregelmäßigen Abständen ihr Tageswerk vollbrachte. Zwischendurch nickte ich immer wieder ein, wandelte auf dem schmalen Grat zwischen Traumwelt und brutaler Realität und mir fiel gar nicht auf, dass die Bauarbeiter Pause machten und ich wieder in den Schlaf sank.

Da klingelte es plötzlich an der Tür. An der Tür im Traum vermutlich. Ich war ja im Hotel und nicht zu Hause. Es klingelte noch einmal, komisch. Ich machte die Augen auf: stockdüster. Als es ein drittes Mal klingelte, tappte ich orientierungslos zur Tür – dahinter stand ein grinsender Putzmann, der mein Zimmer reinigen wollte. In der Hand hielt er das „Do not disturb“-Schild.

„It was on the floor“, bemerkte er ohne großes Schuldbewusstsein.

„I was sleeping!“

Das würde wohl als Erklärung reichen, warum ich ihm die Tür vor der Nase zuschlug. Durch seine List mit dem Türschild hatte der Mann dennoch erreicht, dass ich die Vorhänge auseinanderzog, die matte Sonne hereinließ und darüber nachdachte, was ich heute anziehen sollte. Ich war kein verzogenes Instagram-Gör, in meinem Koffer lag nur das Nötigste – die Frage war nur: Was zog man in einem muslimischen Land an, in dem man meteorologiebedingt am liebsten in Flipflops durch die Gegend laufen würde? Und sonst nichts. In Europa hätte ich mich anstandshalber für Hotpants und ein knappes Top entschieden.

Als ich mich mit meinem blassgrünem T-Shirt und einer Hose, die bis zu den Knien reichte, zwischen den Menschen auf der Straße bewegte, sah ich einheimische Frauen mit Kopftuch, langen Ärmeln und knöchellangen Hosen – hart im Nehmen, diese Frauen. Dann waren da noch Touristinnen, die sich für die Option „Kaum was an“ entschieden hatten. Die beiden Extrempole der Kleidungsskala waren vertreten, dazwischen kaum etwas.

Auf den Bürgersteigen roch es nach Parfum. Es herrschte Linksverkehr. Ich, die ich gewohnheitsmäßig rechts ging, musste permanent ausweichen. Ich war unterwegs zu einer Fressmeile unter freiem Himmel, einem Geheimtipp aus dem Reiseführer. Das Problem: Die einzige Karte von Kuala Lumpur, die ich in meinem Rucksack hatte, war nur sehr grob und ich musste nach Gefühl gehen. Von dem Mann, der mir beim Entgegenkommen sagte, ich sei sehr hübsch, ließ ich mich nicht ablenken. Zumal ich ihm nicht zustimmen konnte: Mein Shirt klebte am Körper, die Haare waren eine Stunde nach dem Duschen auch nicht mehr ganz frisch. Aber über Geschmack lässt sich ja bekanntlich streiten.

Da saßen drei Äffchen auf einer Balustrade. Mir nichts, dir nichts. Ich schaute mich um, ob in der Nähe jemand stand, der Affenfotos verkaufte. Aber nein, die Affen saßen einfach so herum, hatten wohl nix zu tun. Anders als die beschäftigte Touristin, die dennoch anhielt, um die Attraktion zu filmen. Ein Affe mit strubbeligem Haar und langem Backenbart lauste gerade den anderen, der dritte schaute unbeteiligt.

Ich saß endlich wieder, wohl in der Straße, die ich gesucht hatte, angelockt vom Essensgeruch, besonders hier am Stand: nach Knobi und einer gewissen Schärfe. Ein zahnloser Herr reichte mir die eingeschweißte Speisekarte, die eher etwas für Fortgeschrittene war. Oder was wollten mir Namen wie Char Koay Teow, Ikan Bakar oder Popia Basah sagen? Genau: nichts. Ich zeigte auf eines der wenigen verblichenen Bilder, ergänzte: „Not hot.“ War gespannt. Im Nu stand ein Teller mit dampfendem Reis in brauner Sauce mit Garnelen vor mir, der meine Sinnesknospen in der Nase tanzen ließ und im Gegensatz zur Fastfoodwerbung im Westen, wo der saftige Burger sich als halb zermatschtes Ding entpuppte, viel besser aussah als sein Abbild.

„Not spicy.“

Der junge Mann, der mir den Teller brachte, lächelte freundlich. Ich versenkte meine Gabel in dem üppigen Gericht, führte den Bissen zum Mund – und erstarrte. Die Zunge wusste sofort Bescheid, gab es an die Nervenzentrale weiter; mir traten Tränen in die Augen. Ich machte den Mund auf, fing an zu wedeln.

Okay, okay, was war zu tun? Den Teller zurückgehen lassen? Hier, am improvisierten Essensstand eher nicht so angesagt. Schade, dass ich kein Wasser dazubestellt hatte. Der Typ war auch schon wieder weg. Dann also vorsichtig weiteressen, nicht so schlingen. So würde ich es überstehen. Das klappte auch ganz gut – und dann ging gar nichts mehr. Ein größeres Chilistückchen hatte ich übersehen, sah Sterne. Ich hielt inne, versuchte, so gut es ging, die Contenance zu bewahren. Der kulinarische Ausflug war zu Ende. Dem älteren Herrn, der gerade wieder vorbeikam, versuchte ich zu erklären, dass das Essen zwar sehr, sehr lecker sei, ich aber einen Teufel tun würde, mich auch nur an einem weiteren Bissen zu versuchen.

„Too spicy.“ Ich wedelte mit einer Hand vor dem Mund.

„Take away?“

Bloß nicht!

Ich versuchte, möglichst unglücklich aus der Wäsche zu schauen, sagte Nein. Und glich dieses Desaster bei meinem Erstkontakt mit dem malaysischen Essen abends am Moon Deck durch ein Törtchen aus, das ich aus einem Foodcourt mitgenommen hatte. Die eifrige Verkäuferin, die mir das gute Stück für 6,90 Ringgit überreichte, fragte nonchalant, ob ich das Restgeld zurückbenötigte, als ich ihr einen Zehner gab. Sicher ist dieses Phänomen in irgendeinem Psychologiebuch beschrieben worden – ich sagte nämlich Nein und bereute es selbstverständlich in derselben Sekunde.

Im Dunkeln am Pool zu liegen, das war in meinem Leben bisher nicht vorgekommen. Dennoch würde ich mich daran gewöhnen können. Tatsächlich hatte ich mich getraut, hier im Bikini aufzukreuzen; in meinem Hinterkopf der Gedanke, dass ich möglicherweise gegen muslimisches Recht verstieß und für hiesige Verhältnisse quasi nackt war. Zum Glück war ich alleine. Warum eigentlich? Weil der Pool unsicher war und abbrechen würde, sobald ich, am Rande im Wasser stehend, über die nächtliche Stadt schaute? Ich tat es trotzdem. Drehte pseudomäßig zwei Runden und widmete mich anschließend meiner mitgebrachten Mango, die ich mit einem mitgebrachten Messer zerschnitt. Herrlich. Und um wie vieles besser als das Zeug, was in Deutschland unter Mango lief. Mit der Frucht verstieß ich zwar nicht gegen muslimisches Recht, aber gegen das im Hotel herrschende Verbot von Speisen im Poolbereich.

Was ich allerdings erst am Folgeabend auf einem Schild las – als ich mich traute, das 37. Stockwerk genauer zu inspizieren. Außerdem hatte ich mich vor dem Betreten des Wassers nicht abgeduscht. Dass das nötig war, wusste auch das laut polternde Paar nicht, das nach mir den Pool betrat. Gerade hatte ich mich daran gewöhnt, dass das zarte Lüftchen hier oben nur für mich wehte, diese Großstadtstille nur mir allein zustand …

Die junge Frau stieg in einem mädchenhaften Kleid ins Wasser, hatte offenbar ähnliche Gedanken zur Nacktheit in Malaysia gehabt wie ich, aber andere Konsequenzen daraus gezogen. Die beiden taten gar nicht erst, als wenn sie schwimmen würden, sondern umarmten sich – und ratschten. Als wenn sie sich nach langer Zeit wiedergetroffen hätten. Dabei wohnten sie vermutlich seit Jahren zusammen.

Ich suchte das Weite und duschte mich unten im Zimmer ab, zum zweiten Mal mit kaltem Wasser. Schade, dass man den Gästen dieses Luxushotels kein Warmwasser gönnte. War wohl in tropischen Ländern so üblich.

Am dritten Tag heute riskierte ich etwas – und zog mir für den Spaziergang im botanischen Garten nichts an. Zumindest nichts Wesentliches. Die Mücke, die mir dort begegnete, fand das Outfit aus kurzer Hose und Oberteil mit Spaghettiträgern top, vor allem die vielen freien Flächen, auf die sie sich hätte setzen können. Das einzige Problem dabei: Ich wollte das nicht. Wer schon einmal die Seiten des Auswärtigen Amtes zu einem Urlaubsziel studiert hat, wird wissen, dass die Wahrscheinlichkeit, die Reise danach tatsächlich anzutreten, gegen null geht, selbst wenn man bereits gebucht hat. In den Szenarios, die dort entworfen werden, ist man am Ende entweder tot oder mit Glück schwerverletzt.

Vielleicht geht es schnell – wenn man beispielsweise im dichten Verkehr einer Großstadt von einem Laster überfahren wird. Oder man wird einfach nur verschleppt, was auch doof ist, weil man lange nicht wiederkommt und währenddessen keiner die Miete in der Heimatstadt zahlt. Möglicherweise fällt einem eine Kokosnuss auf den Kopf und man bleibt lebenslang behindert oder aber es beißt einem ein Affe das Ohr ab, was an sich nicht schlimm wäre, da man sich hinterher die Haare langwachsen lassen kann. Es kann allerdings auch zu einer Sepsis führen. Oder Wundstarrkrampf. Oder beidem.

Auch die Mücken waren nicht in der Gunst des Auswärtigen Amts. Im Grunde waren sie nicht so schlimm, hieß es dort, man solle einfach nur zusehen, dass einen keine stach. So einfach war das. Ich nahm mir solche Dinge zu Herzen und schlug zu, als das besagte Vieh auf meinem Unterarm landete. Noch einmal davongekommen. Jetzt nicht die Mücke.

Zum Glück war Kuala Lumpur versmogt, sodass ich meinen Regenschirm nur im Notfall herausholen musste, um mich vor der Sonne zu schützen. Ich ging den botanischen Garten ab, sah dicke Wurzelwürste, die von den Bäumen herabhingen, Hecken, die als Baum stilisiert waren.

Der Doppeldeckerbus, der mich hergebracht hatte, fuhr am frühen Abend nicht mehr. Schweißgebadet, wie ich war, mochte ich lieber nicht in ein Taxi steigen. Gar nicht aus Höflichkeit gegenüber dem Fahrer – ich wollte mich im klimatisierten Wagen nicht verkühlen. Ich wanderte also zurück. Sieben Kilometer, machbar. Blöd nur, dass es gleich dunkel würde; da sollte ich vielleicht nicht hier im Randbezirk unterwegs sein.

Just in diesem Augenblick bog ein Doppeldecker um die Ecke. Ich stürmte hocherfreut in seine Richtung, bestieg den Bus, doch der Fahrer dämpfte meine Freude: Der Bus fuhr nur bis Station 22, wo auch immer das war. Schade. Ich nahm an, dass ich dann trotzdem aus dem Gröbsten raus wäre.

Wie weit es von da zu den Petronas Twin Towers sei, wollte ich wissen. Er winkte ab – viel zu weit. Ich sagte, ich sei gut zu Fuß. Keine Chance, wiederholte er und erklärte mir stattdessen den Weg zur nahegelegenen Metro. Ich tat, als ginge ich in diese Richtung, konsultierte nebenbei den Stadtplan auf meinem Handy: Ganze drei Kilometer waren es bis zu den Türmen.

Eine schier unüberwindbare Strecke für mich, die ich schon mal vierzig Kilometer am Stück gegangen war. Wobei ich den damaligen Ehrgeiz tatsächlich bereut hatte. Bei Kilometer dreißig dachte ich noch: Och, wie toll, diesmal keine Blasen an den Füßen. Und spürte gleich darauf die erste, der schnell weitere folgten. Ich fiel immer weiter zurück. Wäre ich allein gewesen, hätte ich mich hingesetzt und mich geweigert weiterzugehen. Bloß war dieser Marsch meine Idee gewesen; ich hatte den anderen davon vorgeschwärmt und sie mit dem authentischen chinesischen Restaurant am Ziel gelockt. Ich musste weiter, fing zur Entlastung an zu quengeln („Ist es noch wa-ha-eit?“).

Was waren da drei läppische Kilometer? Ich ging los, durch unbekannte Straßen, in denen die Einwohner KLs einkauften und wohnten. Sah unterwegs eine malerische Moschee mit zwiebelförmigen Türmchen, die am Wasser lag, ein Sultansgebäude mit zinnoberroten Kuppeln und einem mosaikhaften Mauerwerk. Passierte mehrere Staus. Und den Doppeldecker, der stecken geblieben war. Der Fahrer hatte sein Radio laut aufgedreht und ließ sich vom Stop-and-go nicht die Laune verderben. Ich überlegte, ob ich ihm winken sollte.

Eine halbe Stunde später war ich bei den Twin Towers und konnte sie sogar noch im Hellen fotografieren. Ich legte mich auf den Rücken und erfasste die Türme im Liegen – die einzige Möglichkeit, beiden Riesen komplett einzufangen.

Im Hotel gab es plötzlich warmes Wasser. Den unaufmerksamen Putzkräften, die die Schalter am Bad aus Versehen anließen (ich selbst hatte mir keine Gedanken über ihre Funktion gemacht), hatte ich es zu verdanken, dass ich am letzten Tag meines Aufenthalts endlich warum duschen konnte.

Ende gut, alles gut.

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