Elons Strumpfwirker

Du möchtest diese Satire lieber hören? Von einem grandiosen Sprecher vorgetragen? Hier geht’s lang.

Schweißgebadet schreckte Severin aus seinem Traum hoch: Er hatte geträumt, die KI würde seinen Job übernehmen. Das Handwerk, das er von seinem Vater und dessen Vater vererbt bekommen hatte und das ihm ein ordentliches Auskommen ermöglichte. Zwar wohnte er mit seiner Familie in einer einfachen Holzhütte mitten im Wald, ohne Elektrizität und Wasseranschluss, aber das war zu der Zeit, in der dieses Märchen spielt, okay.

War es nur ein böser Traum gewesen, der Severin angst und bange werden ließ?

Leider nicht. Auf dem Tisch inmitten der Diele sah der Strumpfwirker die Zeitschrift vom Vortag und dort in großen Lettern die Headline: „Wir sind KI.“

Leise sammelte er seine Sachen zusammen, damit seine Frau und die Kinder nicht wach wurden, und verließ das Haus. Bei Morgengrauen gelangte er an den Hof von Kaiser Elon, erbat Einlass, wollte diesen um Gnade anflehen, sich mitsamt seinem Handwerk in dessen Dienst stellen. Schließlich war er in der Lage, dem Herrscher wollene Strümpfe zu stricken, falls dieser bei einem seiner tollkühnen Vorhaben kalte Füße bekommen sollte.

„Hm“, sagte der Kaiser, als der brave Mann mit gesenktem Haupt vor ihm kniete.

Nicht dass er ihm leidtat. Aber eine Stimme sagte Elon, dass ihm dieser Untergebene noch nützlich sein könnte. Gerade vor zwei Tagen hatte er in Niederutzheim ein Flussbett trockengelegt – weil er es konnte und weil er es für sein Vorhaben brauchte. Dort, im trockengelegten Flussbett, so hatte der Hofphysiker ausgerechnet, könnte er mit seinem Wundergefährt eine Spritztour machen – Autobahnen waren leider noch nicht erfunden.

„Ha!“, stieß der Herrscher aus. Er hatte eine Idee.

„Du wirst einen Überwurf für mein Fahrzeug stricken.“

Als Severin verwundert aufschaute, ergänzte er: „Damit das Volk mir meine Kutsche nicht neidet.“

Severin bekam ein Zimmer im Palast zugewiesen und machte sich an die Arbeit. In hundert Tagen und hundert Nächten strickte er einen prächtigen Überwurf in den schillerndsten Farben, der millimetergenau auf Elons Karre passte. Die Windschutzscheibe ließ er frei.

Wirklich zufrieden war der Herrscher nicht, aber dennoch sollte es reichen. Ohne zu frühstücken verließ er das Haus, eilte zum Flussbett, begegnete auf dem Weg dorthin einem Mädchen, das am Ufer saß. Als es den Herrscher erblickte, rannte es herbei und drückte dem Mann einen kleinen Brummkreisel in die Hand.

Elon war verwirrt.

Aber nicht sosehr, als dass es ihn von seinem Vorhaben abgebracht hätte. Er eilte weiter, erreichte den Wagen, setzte sich hinter das Lenkrad und drückte das Gaspedal durch. Staub wirbelte hoch. Doch den sah er nicht, denn der Strumpfwirker hatte nicht an die Heckscheibe gedacht. Aber was in der Vergangenheit lag, kümmerte den Herrscher ohnehin wenig, ihn interessierte allein die Zukunft.

Binnen weniger Minuten war er in Frankfurt, fuhr an Stuttgart vorbei und erreichte München, wo gerade das Oktoberfest stattfand und Jungen und Maderl sich fröhlich auf dem Rasen übergaben.

Elon stieg aus, denn er hatte Durst, kaufte sich eine Maß Bier, dann noch eine. Die Menschen um ihn herum staunten und bemerkten, dass der Fremde wohlhabend sein musste, wenn er sich gleich drei Maß leisten konnte. Sie prosteten ihm zu.

Der Kaiser blieb nicht lange; er wollte kein Aufsehen erregen. Außerdem hatte er eine Mission: Mit seinem Wagen ans Ende der Welt kommen. Kaum wollte er sein Gefährt starten, sah er durch das Frontfenster die Kelle in der Hand eines bayrischen Staatsbeamten. Der meinte es ernst, verlangte die Papiere.

„Das muss ein Missverständnis sein“, meinte Elon verwirrt. „Ich bin der Kaiser.“

Davon wollte der Staatsdiener nichts wissen. Einen Kaiser kannte er nicht, er selbst war seinem König Markus ergeben. Und so führte er den Missetäter ab und beschlagnahmte dessen Kraftfahrzeug. Es half kein Wehen und kein Klagen, kein Geld dieser Welt; der brave Beamte tat schuldigst seine Pflicht.

„Vorschrift ist Vorschrift. So samma mia do in Bayern.“

Elon wurde in ein dunkles Verlies geworfen, wo er von da an seine Tage fristete.

Am Hof wurde man unruhig, als der Herrscher auch nach einem Jahr von seiner Expedition nicht zurückgekehrt war. Die Untergebenen tuschelten, tauschten Gerüchte aus. Nix Genaues wusste man nicht.

Da erinnerte man sich an den Strumpfwirker, dessen Job zwischenzeitlich tatsächlich von der KI übernommen worden war und der nun mitsamt seiner Familie vom Bürgergeld lebte. Nach Ablauf eines Jahres wurde er vor das Hohe Amt zitiert: das Jobcenter. Der Beamte, der nur seine Pflicht tat, musterte ihn von oben bis unten und drückte ihm als zumutbare Arbeit auf, loszuziehen und nach dem vermissten Herrscher zu suchen. Und solle er bis an sein Lebensende gehen.

Der tapfere Strumpfwirker küsste zum Abschied seine Frau, den Buben und das Mädchen und machte sich auf den Weg. Er ging hundert Tage und hundert Nächte, bis er an München vorbeikam. Inzwischen war man hier ausgenüchtert.

Da es tiefste Nacht war, hörte er nur das Schnarchen aus Hunderten von Betten.

Tapfer ging er weiter, fand auch des nachts keine Ruhe.

Auf einmal vernahm er ein leises Sirren, das aus einer der Hütten am Flussbett kam. Als er genau hinlauschte, verstummte es. Gerade als er weitergehen wollte, hörte er es wieder. Er ging zu dem Haus, das am Rande des Weges stand und beugte sich tief zu dem vergitterten Kellerfenster hinunter, spähte hinein. Im Inneren sah er im Lichte einer schwachen Lampe seinen Gebieter auf einer Pritsche sitzen und mit einem Brummkreisel spielen.

„Ein Wunderwerk der Technik“, murmelte dieser geistesabwesend.

Severin räusperte sich, erntete nur einen stumpfen Blick. Ob Elon ihn erkannte, ist nicht überliefert. Auch nicht, ob er überhaupt gerettet werden wollte. Den naheliegenden Vorschlag Severins, durch das Kellerfenster zu klettern, lehnte er ab. Es half keine Überredungskunst. Da es in der Kantine tagein, tagaus Weißwurst gegeben hatte, nannte der Herrscher nun einen breiten Rettungsring sein Eigen. Der wurde zwar so genannt, konnte ihm allerdings nicht aus der prekären Lage heraushelfen.

Was ein Glück, dass Severin nur vom Bürgergeld gelebt hatte, schlank war wie ein Hering und ruck, zuck, durch das Kellerfenster hindurchschlüpfte. Er sprang hinunter auf den kalten Boden, rappelte sich hoch und schickte sich an, die Zelle zu durchschreiten. Er durchforstete jeden Winkel, fand darin jedoch nichts Brauchbares, um die ihm auferlegte Mission zu erfüllen, musste sich auf seine Basic Skills besinnen. Still setzte er sich in eine Ecke, unbemerkt von den Aufsehern, die in den Folgetagen immer mal wieder hereinkamen, und begann das Stricken.

Wie lange er strickte, ist nicht bekannt. Schätzungsweise hundert Tage. Und wohl auch hundert Nächte.

Nach der letzten war der Ganzkörperanzug fertig. Stolz präsentierte er ihn dem unbeteiligten Fettwanst auf der Pritsche. Wieder musste der Strumpfwirker seine ganze Überredungskunst einsetzen, um Elon in den wollenen Anzug zu stecken. Über und über war dieser nun mit flauschiger Wolle bedeckt, nur die Frontansicht hatte der Strumpfwirker freigelassen: das Gesicht.

Als die nächste Zellenkontrolle nahte, erzählte der gewiefte Bursche den Aufsehern, dass er sich bei der Bärenjagd hierherverirrt hatte. Stolz präsentierte er den dicken Bär, der ihm stampfend zum Ausgang folgte, während die Beamten die beiden höflich durchließen.

Sie waren in Freiheit.

Erleichtert machte sich der Strumpfwirker auf den Weg zurück zum Hof, witzelte über dies und das, erzählte lustige Geschichten, wie zum Beispiel die, dass bald die Reichen besteuert werden würden, und schaffte es damit, dem Elon seine Lebensfreude wiederzugeben.

Als sie den Hof erreichten, war der wieder der Alte. Ohne seine Untertanen zu begrüßen, begab er sich in die Schatzkammer, wo er sein Gold, seine Diamanten und Smaragden aufbewahrte. Er überhäufte den Strumpfwirker mit Edelsteinen, hörte erst auf, als dieser den großen Sack kaum noch tragen konnte. So verbrachte der brave Mann den Rest seines Lebens glücklich und ohne Sorgen mit seiner Familie in einem Penthouse am Rande der Stadt.

Aber natürlich ist dieses Happy End nur Märchenquatsch.

In Wahrheit ließ der Kaiser den Strumpfwirker köpfen. Einfach weil Ganzkörperanzüge furchtbar hässlich sind.


Aber was, wenn die KI uns nicht nur unsere Jobs wegnimmt, sondern sogar Bewusstsein erlangt? Was das bedeutet, liest du in der Satire Im früheren Leben ein Taschenrechner: KI erlangt Bewusstsein.

1 Kommentar zu „Elons Strumpfwirker“

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