„Gendern? Ein riesengroßer Popanz“

Ein Lektorengespräch über aktuelle sprachliche Erscheinungen, auch die doofen.

Klaus ist seit 24 Jahren Lektor, Silvana seit 20, Jörg seit 15 – wobei sie keine „klassischen“ Lektoren sind. Was genau sie machen, was sie von der Bibel des Lektors, dem Duden, halten und welche vielleicht unbequeme Sicht sie auf die sich wandelnde Sprache haben, liest du hier.

Ihr seid Lektoren, allerdings keine Verlagslektoren – sondern?

Klaus: Ein Verlagslektor betreut ein Projekt vom ersten bis zum letzten Buchstaben. Das ist etwas, was wir weniger tun – gerade wenn es um den stilistischen Bereich oder den Aufbau geht. Wenn ich einen Geschäftsbericht lese, fange ich nicht an, dem Kunden zu erklären, dass Kapitel 3 besser nach Kapitel 5 käme. Der Schwerpunkt liegt schon auf dem Korrektorat.

Silvana: Immer wenn ich gefragt werde, was ich beruflich mache, sage ich: „Lektor.“ Zurück kommt dann: „Oh, das ist ja spannend!“ Dann muss ich immer sagen: „Ne, ne, ich bin Werbelektor.“ Und dann erzähle ich, dass ich alles lese, was irgendwie mit Werbung zu tun hat, von Flyern bis hin zu den Anzeigen, die in der U-Bahn hängen. Tagtäglich. Und immer kommt ein recht enttäuschtes „Oh“ zurück. Ich habe es noch nie erlebt, dass jemand sagte: „Cool!“

Jörg: Silvanas Antwort, kann ich nur bestätigen. Ich nehme auch wahr, dass die Leute oft enttäuscht und ratlos sind, wenn ich erzähle, was ich beruflich mache.

Heißt das, euer Beruf ist langweilig? Oder ist er doch spannend?

Klaus: Unglaublich spannend. Das Spannendste ist, dass ich morgens nicht weiß, was ich abends gelesen haben werde.

Silvana: Hinzu kommt natürlich die Bandbreite an Jobs aus ganz unterschiedlichen Bereichen: Von stinknormalen Werbeanzeigen über technische und medizinische Dinge bis hin zu gereimten Songs – kam letzte Woche gerade vor. Aber dass man eben in diese verschiedenen Bereiche reinschnuppern kann, während man liest, das finde ich durchaus reizvoll. Ich erfahre Dinge, für die ich mich im Normalfall nicht interessiert hätte.

Klaus: Wenn ich mit meiner Frau „Wer wird Millionär?“ schaue, kommt es regelmäßig vor, dass ich sage: „Ja, habe ich letzte Woche gerade gelesen!“ Ansonsten hätte ich bei der Frage wie ein Ochs vorm Berg gestanden. Als Werbelektoren sind wir außerdem näher an der Realität. Wenn jemand einen Roman lektoriert, ist das weniger handfest. Mit dem, was ich lese, kann ich oft tatsächlich etwas anfangen.

Jörg: Ich habe gehört, dass Verlagslektoren auch Projektmanager sein müssen. Das würde ich eher nicht machen wollen, denn ich finde es schön, wenn ich direkt mit dem Text, mit den Buchstaben zu tun habe. – Wenn ich wiederum einen interessanten Romantext vor mir hätte, wäre es natürlich toll, wenn ich damit arbeiten kann, wenn ich sehe: Da ist ganz viel Kraft drin, da kann jemand etwas, aber da ist eine gewisse Ungenauigkeit – oder da wäre vielleicht ein anderes Wort besser, hier stimmt die Grammatik nicht. Ich könnte das Ganze verfeinern, verschönern, verbessern; das fasziniert mich. Manchmal lese ich ein Buch, bin ganz begeistert und plötzlich denke ich: „Ach! Da hat jemand nicht aufgepasst, weder die Autorin noch ihre Lektorin.“ Schade, das hätte ich doch verbessern können!

Silvana: Als Werbelektoren würden wir da auch ganz anders herangehen. Wenn man uns ein Buch zum Lektorieren geben würde – und tatsächlich passiert das manchmal –, wären wir viel korinthenkackerischer. Wir würden uns alles viel strukturierter und genauer angucken und weniger auf den Plot achten, auch wenn wir den natürlich nebenbei mitkriegen. Der Fokus ist bei mir ein anderer: Ich schaue zuerst, ob alle Buchstaben da sind, ob es mit der Grammatik einigermaßen hinhaut, ob ordentlich durchnummeriert ist.

Jörg: Mir fällt es bei privaten Buchprojekten, die ich bekomme, schwer, an den Rechtschreib- und Grammatikfehlern vorbeizugucken, wenn es heißt: „Guck doch erstmal, ob das schlüssig erscheint.“ Das passt mir gar nicht. Es soll erstmal formal richtig sein und dann kann man gucken, wie man es besser strukturieren könnte.

Silvana: Wobei ich privat ganz viel ausblende. Auf der Arbeit korrigiere ich einen Briefanfang immer in „Hallo Paul“, Komma – und dann klein weiter. Privat schreibe ich das mit einem Ausrufezeichen – und danach groß.

Oh, oh.

Jörg: Es ist Unsinn zu sagen: „Da muss immer ein Komma stehen.“ Natürlich kann man ein Ausrufezeichen setzen.

Aber nochmal zum Stichwort Korinthenkackerei: Es ist ja so, dass der Bindestrich als kurzer Strich dargestellt wird, der Gedankenstrich aber als langer. Warum ist es wichtig, wie lang ein Strich ist? Ist das nicht egal?

Klaus: Das kommt darauf an, auf welcher Arbeitsgrundlage du dich bewegst. Wenn du sagst, der Duden ist der Maßstab, dann ist es nicht egal.

Silvana: Oder ob du uns beruflich oder privat fragst.

Jörg: Es ist eine ästhetische Frage, eine Frage des Stils.

Hat man keinen Stil, wenn man den Gedankenstrich als kurzen Strich schreibt?

Jörg: Genau. Wenn ich die technischen Möglichkeiten dazu habe, schreibe ich den Gedankenstrich als langen Strich.

Klaus: Oder sonst mit der Kombination [Alt] plus [0150] auf dem Zahlenblock.

Auf dem Handy geht das ja nicht.

Klaus: Ich habe noch nie eine SMS geschrieben! Welche bekommen habe ich schon – und manchmal konnte ich sie sogar öffnen.

Jörg: Und dabei hat er sich gefragt: „Warum können diese Leute keinen Gedankenstrich schreiben?!“

(Allgemeines Lachen.)

Silvana: Bei mir ist das stark tagesformabhängig. Mein Mann ist schon ganz genervt, wenn ich meine: „Der Gedankenstrich ist lang!“ Dann verdreht er immer die Augen. Oder wenn ich sage: „Da ist ein Leerzeichen zu viel.“

Klaus, du hattest vorhin den Duden erwähnt: Ist der Duden die Bibel des Lektors?

Klaus: Das ist jedenfalls beruflich unsere Arbeitsgrundlage. Der Duden tut ja momentan vieles dafür, dass er sich selbst als Maßstab entbehrlich macht, weil er deskriptiv statt präskriptiv arbeitet. Er beobachtet also, anstatt vorzuschreiben.

Jörg: Eigentlich gilt ja die amtliche Rechtschreibung, die seit der Reform maßgebend ist. Und der Duden ist ein Buch, das das Ganze aufbereitet und vielleicht auch interpretiert.

Silvana: In meinem Arbeitsalltag ist das schon die Bibel. Privat mag das anders sein. Der Duden ist schon ein Totschlagargument. Wenn man zu jemandem sagt: „Das steht da und da im Duden“ – und schickt dann auch noch eine Kopie der Seite mit, ist die Person sofort überzeugt.

Gibt es beim Lektorieren denn ein Richtig und Falsch? Kann man das so eindeutig sagen wie in den Naturwissenschaften?

Klaus: Es gibt ein Richtig, ein Falsch und eine große Grauzone – die durch die Rechtschreibreform, nach der viel mehr erlaubt ist, noch größer wurde. Vorher konnte man klar sagen, was richtig und falsch ist. Speziell bei der Kommasetzung geht jetzt viel mehr als früher. Und dann ist es eben in dieser Form richtig, in der anderen aber auch.

Silvana: Das ist auch im Alltag schwierig: Mein Sohn brachte kürzlich ein Diktat mit nach Hause; die Lehrerin hatte etwas angestrichen. So, wie er es geschrieben hatte, war es aber nicht falsch. Also habe ich die Stelle aus dem Duden kopiert und ihr das ins Diktat hineingelegt. Er soll keinen Punkt Abzug kriegen, obwohl sie im Unrecht ist und nicht er. Gerade für Kinder, die schreiben lernen, ist es schwierig, weil die natürlich fragen: „Muss ich es so oder so schreiben?“ Dann zuckt man mit den Schultern und sagt: „Geht beides, such dir eins aus.“ Das finde ich total doof, denn als Kind fand ich es wichtig, es einmal richtig zu lernen – und fertig.

Jörg: Bei der Reform war das auch ein wichtiges Argument, dass man alles vereinfachen wollte, dadurch dass man sagte: „Man kann es so oder so machen.“ Denn dann schreibt man es nicht falsch, wenn man sich gerade unsicher ist. Aus meiner Sicht war der Gedanke, der dahinterstand, nicht in Ordnung. Unseren Job als Lektoren oder Korrektoren macht das zudem schwieriger, da wir alle Varianten parat haben müssen. Darüber hinaus müssen wir noch mitkriegen, wenn das im Text nicht einheitlich ist – Einheitlichkeit ist uns sehr wichtig.

Klaus: Apropos Deutschlehrerin: Ich hatte auch mal den Fall, dass mir eine Bekannte zutrug, eine mit ihr befreundete Deutschlehrerin hätte zu ihr gesagt: „Stell dir mal vor, da hat jemand meine Deutschkorrekturen korrigiert!“ Das war natürlich ich – denn es war die Lehrerin meines Sohnes.

Silvana: Lehrer haben oft die unangenehme Eigenschaft, dass sie Fehler nicht zugeben können. Sie sind auf ihre Art genauso korinthenkackerisch wie wir. Nur dass wir Recht haben und sie nicht. (Sie lacht.)

Wacht man eines Tages auf und beschließt: „Ich werde Lektor!“ Oder wie seid ihr zu eurem Beruf gekommen?

Klaus: Wie lange haben wir Zeit?

(Allgemeines Lachen.)

Klaus: Bei mir war es ein Sammelsurium an Zufällen. Kurzfassung: Lesen und Schreiben konnte ich, bevor ich in die Schule kam. In der vierten Klasse hatte ich den ersten Schlüsselmoment: Wir haben damals ein Diktat pro Woche geschrieben – und es lief ziemlich gut. Irgendwann kam mein bester Freund auf mich zu und meinte: „Du schaffst keine 34 Einsen!“ Von da an hatte ich Stress. Am Ende des Schuljahres standen in meinem Diktatheft 34 Einsen. Da kam der erste Gedanke auf, dass das vielleicht nicht ganz normal ist, wenn man so etwas kann. Alles, was ich für meinen jetzigen Beruf brauche, wurde zu der Zeit schon angelegt. Nach dem Abitur habe ich nach einer orientierungslosen Phase ein Journalistikstudium angefangen. Aber auch da hat mir während eines Volontariats die Schlussredaktion am besten gefallen. Und dann kamen viele Zufälle, die mich zu der Stelle führten, die ich jetzt habe. Manchmal sage ich: „Wenn ich mir eine Stelle hätte malen müssen, die wäre es gewesen.“ Ansonsten wäre der Plan aber gewesen, dass meine Frau nach dem ersten Kind wieder arbeitet und ich zu Hause bleibe. Mit Jobs für Geisteswissenschaftler, speziell für Journalisten, war es damals auch schon nicht ganz so einfach, weil der Markt überschwemmt war.

Silvana: Bei mir geht’s schneller. Nach meinem Magisterstudium der Anglistik, Germanistik und Erziehungswissenschaft habe ich geguckt: Was machst du damit? Buchlektor wäre ein Traum gewesen, bloß war es schwer, da reinzukommen. Ich hatte mich breit gestreut auf diverse Stellenanzeigen beworben und irgendwann mal eine Anzeige in einer Zeitung gesehen, die voller Fehler war. Der Bewerber sollte die Anzeige korrigieren und einschicken. Das habe ich gemacht und wurde einige Zeit später Volontärin in diesem Unternehmen. Zuerst dachte ich, das Volontariat wäre eine gute Grundlage, um anschließend im Verlag zu arbeiten. Doch währenddessen habe ich gemerkt, dass wir ganz andere Sachen machen. Und so bin ich ins Werbelektorat hineingerutscht und da auch hängen geblieben, obwohl ich ursprünglich andere Vorstellungen hatte. – Du bist auch eher hineingerutscht, Jörg, oder?

Jörg: Ich habe das, was wir machen, immer gern gemacht. In der Schule war ich immer gut in Grammatik und Rechtschreibung, hielt das deswegen aber auch für eine Selbstverständlichkeit. Ich dachte, dass das im Prinzip jeder kann. Deswegen hat es eine Ewigkeit gedauert, bis mir dämmerte, dass es eine besondere Fähigkeit ist, die ich mittlerweile zum Geldverdienen nutze. Das hat aber gedauert; vorher hatte ich immer Zeitung gelesen, da immer wieder Fehler entdeckt und mich darüber geärgert: „Mensch, ich bezahle dafür und trotzdem sind da Fehler. Wie blöd sind die denn?!“

Und zwischendurch hattest du etwas anderes gemacht?

Jörg: Ja, ich bin gelernter Musikalienhändler.

Muss man als Lektor gern lesen? Oder anders gefragt: Lest ihr gern in eurer Freizeit?

Klaus: Ob man das muss, weiß ich nicht. Aber ich kann mich an keine Sekunde meines Lebens erinnern, in der ich nicht leidenschaftlich gern gelesen hätte.

Silvana: Ich denke, das ist eine Grundvoraussetzung, gerade weil man acht Stunden täglich Texte jedweder Art lesen muss. Ohne Freude am Lesen würde man diesen Job nicht gut machen. Bei manchen Lektoren nimmt das private Lesen ab, sobald sie mit dem Job anfangen. Das kann ich selbst nicht bestätigen; ich lese privat auch viel, aber eben ganz andere Sachen, keine Kataloge beispielsweise.

(Allgemeines Lachen.)

Klaus: Wenn Kollegen mich in der Mittagspause sehen, sagen sie: „Das ist mir unbegreiflich, wie man als Lektor in seiner Pause noch lesen kann.“ Darauf antworte ich immer: „Der gravierende Unterschied dabei ist: Das, was ich in der Mittagspause lese, lese ich freiwillig.“

Jörg: Ich zucke immer zusammen, wenn ich das mitkriege, dass die Leute bei dir staunen. Aber das macht deutlich, wie unterschiedlich wir gestrickt sind. Für andere ist Lesen anstrengend und keine so schöne Beschäftigung. – Es ist ja so: Du musst nicht nur gern lesen, sondern auch den Job ordentlich machen. In deinem bisherigen Leben solltest du eine Menge Text verdaut haben, sonst funktioniert das nicht.

Silvana: Wenn du privat viel liest, baust du auch einen enormen Wortschatz auf. Du speicherst die Literatur in deinem Hirn ab und kannst sie später bei der Arbeit wieder abrufen.

Klaus: Ich nehme Informationen auch viel besser durchs Lesen als durchs Hören auf. Deshalb finde ich Meetings ganz schwierig. Da stelle ich mir am Ende häufig die Frage: „Was war eigentlich?“

Ist ein Lektor eigentlich immer im Dienst?

Klaus: Ich bin dafür bekannt, dass ich im Restaurant beim Bestellen ewig brauche, weil ich die Karte erstmal auf Fehler lese.

Silvana: Das hatte ich nur ganz am Anfang. Da habe ich beim Duschen noch das Etikett vom Duschgel geprüft.

Jörg: Kommt darauf an, wie man „im Dienst“ definiert. Nach Feierabend ist erstmal Schluss. Wobei ich es für unmöglich halte, die Aufmerksamkeit für die Fehler abzuschalten; man ist ja geschult. Und wenn ich einen Fehler sehe, sehe ich ihn einfach. Die Dienstfrage ist eher: Muss ich damit etwas machen? Muss ich andere Leute darauf aufmerksam machen? Das nimmt eher ab. Zumal die allerwenigsten Freude daran haben, so etwas gesagt und gezeigt zu bekommen. Die denken eher: „Was hat der denn für ein Problem? Ist doch nur eine Speisekarte.“

Silvana: Man ist so ein bisschen der wandelnde Duden und wird gefragt: „Kannst du mal bitte sagen, wie man das schreibt?“ Wenn du das aber von alleine machst, machst du dir eher keine Freunde damit.

Trauen sich die Leute überhaupt, in eurer Gegenwart den Mund aufzumachen?

Jörg: Da sieht man ja nicht, wie es geschrieben ist!

Silvana: Ich kann mich da meist zusammenreißen. Wobei ich bei meiner Tochter das „wegen dem“ immer korrigieren muss; sie ist schon ganz genervt. Aber es ist wie ein Reflex; ich kann es nicht abstellen.

Jörg: Privat sage ich ganz selbstverständlich „wegen dem Grund“, weil ich so aufgewachsen bin. Das passiert dann einfach. Ich muss nicht jedes Mal einen sauberen Genitiv verwenden, wenn es so auch geht.

Sind Lektoren Künstler oder Handwerker?

Klaus: Handwerker.

Jörg: Wenn du mit einem Roman zu tun hast und dem Künstler helfen sollst, ein gutes Kunstwerk zu bewerkstelligen, musst du auch selbst Künstler sein.

Silvana: Wir haben aber wenige kreative Jobs und müssen vorrangig dafür sorgen, dass die Kommas an der richtigen Stelle stehen und jeder versteht, was gemeint ist. Das ist für mich mehr Handwerk als Kunst.

Jörg: Ganz eindeutig.

Silvana: Selbst wenn wir mal eine kreative Übersetzung prüfen oder stilistische Vorschläge machen sollen, habe ich hinterher nie das Gefühl, dass ich mich künstlerisch verwirklichen konnte.

Kommen wir mal zu einem Reizthema: Was haltet ihr vom Gendern?

Klaus: Nichts. Ein riesengroßer Popanz, ein Nebenschauplatz in einer Gesellschaft, die sich nicht anders zu beschäftigen weiß.

Silvana: Ich bin da zwiegespalten. Auf der einen Seite halte ich diesen ewigen Zwang, alle zu nennen, für nervig. Es stört auch den Lesefluss. Das geht mit dem generischen Maskulinum einfacher und schneller – und ich weiß, dass alle mitgemeint sind. Auf der anderen Seite kann ich es auch verstehen: Vor zwei Jahren gab es einen Gesetzentwurf, bei dem man das generische Femininum verwendet hatte. Der wurde in der Form abgelehnt – mit der Begründung, dass sich möglicherweise nicht alle angesprochen fühlen. Das geht aus meiner Sicht wiederum auch nicht. Wenn du das eine nicht zulässt, kannst du das andere ebenfalls nicht machen – da fängt die Gleichberechtigung ja an. Ich denke aber auch, es ist unserer Wohlstandsgesellschaft geschuldet, dass wir über solche Sachen nachdenken. Es gibt wichtigere Probleme; das dürfen wir nicht vergessen. Ich bin gespannt, wie sich dieses schwierige Thema in den nächsten Jahren noch entwickeln wird. Ob wir künftig alles durchgendern werden, um es allen recht zu machen.

Ich fürchte ja.

Klaus: Ich sehe das nicht unbedingt.

Jörg: Ich auch nicht.

Klaus: Es gibt ja noch Leute, die Argumenten gegenüber durchaus zugänglich sind, warum Gendern nicht in jedem Fall eine wunderbare Idee ist.

Jörg: Die Praxis wird vermutlich zeigen, dass es nicht praxisgerecht ist, mit Sternchen und anderen Zeichen zu arbeiten oder konsequent Doppelnennungen zu verwenden. Nach einem allgemeinen Austoben wird das Ganze zurückgehen, wenn auch nicht ganz verschwinden. Mein Gefühl ist, dass wir gerade an einem Höhepunkt sind – dass es in den letzten zwei Jahren bei der Gesamtbevölkerung angekommen ist. Das muss jetzt erstmal praktiziert werden, bevor alle merken, wie anstrengend das ist.

Silvana: Es treibt ja auch ganz merkwürdige Blüten. Neulich hatte ich etwas von „Mädchinnen“ gelesen.

Jörg: Oder Hähncheninnenfilet.

(Ungläubiges Murmeln.)

Silvana: Wobei es Studien gibt, die zeigen: Wenn durchgehend von männlichen Berufen geredet wird, kommen Mädchen nicht auf die Idee, Mathematiker zu werden. Es ist durchaus etwas, was auf unbewusster Ebene Kinder und auch Erwachsene beeinflusst. Wenn man das tatsächlich durch Sprache relativieren könnte, wäre das natürlich eine tolle Sache.

Jörg: Tatsächlich bräuchte man hier die Praxis: Wenn es ganz normal ist, dass die Chirurgen in einem Krankenhaus sowohl männlich als auch weiblich sind, kommt niemand auf die Idee, sich unter dem Chirurgen immer einen Mann vorzustellen. Bestes Beispiel: Seit Angela Merkel wissen wir auch, dass eine Frau Bundeskanzler sein kann.

Ist es nicht komisch, es so auszudrücken? Genauso wie es komisch ist, wenn eine Rechtsanwältin mir ihre Visitenkarte überreicht, und dort steht „Rechtsanwalt“. Hier haben wir doch die konkrete Person und brauchen kein generisches Maskulinum mehr.

Silvana: Tatsächlich habe ich keine Probleme damit, mich als Lektor zu bezeichnen.

Jörg: Ich halte die beiden Formen nicht für austauschbar und gleichwertig, weil in den allermeisten Fällen die weibliche Form von der männlichen abgeleitet ist: Arzt/Ärztin, Kanzler/Kanzlerin. In den meisten Fällen wird ein „in“ angehängt. Aus meiner Sicht ist das generische Maskulinum nicht deshalb sinnvoll, weil wir die Männer im Vordergrund halten müssen, sondern weil es die Grundform ist.

Klaus: Ich kann meine Wertschätzung Frauen gegenüber auf vielen anderen Ebenen deutlich besser ausdrücken, als wenn ich überall ohne Not ein „in“ anhänge.

Silvana: Ich finde es total schwer zuzuhören, wenn jemand die Doppelform in der gesprochenen Sprache mit einer künstlichen Pause ausdrückt.

Jörg: Ich halte das nicht aus. Da habe ich vielleicht ein interessantes Thema, einen intelligenten Sprecher – und dann fängt der an mit diesen „innen“. Da bin ich raus. Beim Lesen genauso: Sobald im Privaten der Stern auftaucht, breche ich die Lektüre ab.

Silvana: Vielleicht sitzen wir in drei Jahren hier und sagen: „Kein Ding, ist doch normal, dass man so redet“, weil wir uns daran gewöhnt haben.

Jörg: Es gibt ja noch etwas, das keiner außer uns Lektoren mitkriegt: dass es bei „Kolleg*innen“ ein ganz anderes Problem gibt: Hier werden im Grunde nur die Frauen angesprochen, denn der Plural von „Kollege“ lautet „Kollegen“, doch das steckt gar nicht mehr in dem Wort drin. – Ich könnte mir vorstellen, dass man bald mit dem generischen Maskulinum gar nicht mehr verstanden wird, weil die anderen Formen so präsent sind.

Ganz anderes Thema: Sind Lektoren ein besonderer Schlag von Menschen?

Silvana: Wir sind normal.

Klaus: Wenn zu mir jemand sagen würde: „Alle Lektoren haben einen an der Waffel“, würde ich nicht massiv widersprechen.

Jörg: Und ich würde sagen: „Nein, nicht alle.

Silvana: Ich denke, Lektoren sind ein recht spezielles Völkchen. Durch unseren Job sind wir sehr eigen.

Klaus: Ich sehe das genau umgekehrt: Wir könnten keine Lektoren sein, wenn wir nicht eigen wären.

Silvana: Genau, man sollte einige kuriose Eigenschaften mitbringen, wenn man Lektor werden will. Gerade wenn es um die Akkuratheit geht. Die hatte ich schon als Kind. Vor allem muss man daran Spaß haben, die Nadel im Heuhaufen zu finden. Und daran, acht Stunden hochkonzentriert zu arbeiten und auch mal Mist zu lesen – so gerne lese ich keine Beipackzettel zum Thema Diarrhö. Aber das gehört nun einmal dazu.

Klaus: Man muss für diesen Job tatsächlich das Talent haben, sich über einen längeren Zeitraum konzentrieren zu können. Denn jeder Buchstabe könnte falsch sein.

Was ist euer Lieblingsfehler?

Klaus: Ein Klassiker ist natürlich der Schweinwerfer.

Jörg: Ich denke da eher an Alltagsfehler. Wenn sie mir begegnen, denke ich immer: „Ah, da isser wieder!“ Sowas wie „Ich wünsche einen gelungen Abend“ statt einen „gelungenen“ – das kommt relativ häufig vor.

Silvana: Der Reisverschluss.

Jörg: Neulich las ich was von Reiskosten.

Welches sprachliche Phänomen regt euch auf?

Silvana: Wenn jemand „wegen“ mit dem Dativ verbindet. Ich setze mich immer für den armen Genitiv ein.

Jörg: Man kann aber auch über das Ziel hinausschießen – ich wollte schon fast „scheißen“ sagen.

(Gelächter.)

Jörg: Im neuen Duden steht „Soundso viel Prozent sagen ‚entgegen des‘ und soundso viel ‚entgegen dem‘ – deswegen ist es schon okay, ‚entgegen des‘ zu sagen.“ So etwas regt mich schon auf. Klar ist Sprache irgendwie entstanden und hat sich entwickelt. Es ist aber bekannt, dass „entgegen“ mit dem Dativ kombiniert wird, da fängt man doch nicht auf einmal mit dem Genitiv an. (Lacht.) Und außerdem: Wenn wir das ernst nehmen – was sollen wir dann noch korrigieren?

Silvana: Der Duden möchte die lebendige Sprache abbilden und legt sich in vielen Fällen deshalb gar nicht fest, wird immer schwammiger. Dass er sagt: „Mach, was du willst“, das ist schon ärgerlich.

Klaus: Es gibt Sachen, auf die ich anspringe und über die ich mich ärgere, aber aus purem Selbstschutz habe ich die nicht verinnerlicht, sodass ich nicht wie aus der Pistole geschossen auf diese Frage antworten kann.

Jörg: Der Genderstern regt mich schon auf. Ich denke, ich habe mittlerweile ein Level gefunden, dass ich beruflich damit umgehen kann. Mittlerweile greift mich das persönlich nicht mehr so an. Aber es ärgert mich schon, wie jemand auf solche beknackten Ideen kommen kann und sie dann in der gesamten Gesellschaft verbreitet.

Welche positiven sprachlichen Entwicklungen beobachtet ihr?

(Betretenes Schweigen.)

(Schallendes Gelächter.)

Bei vielen Zeitungen gibt es kein Lektorat mehr, zumindest sieht es oft so aus. Braucht die Welt das Lektorat noch?

Jörg: „Man braucht das“ – sagte der Lektor. Natürlich könnte man sagen: Wenn es eh keinem auffällt, dass selbst bei renommierten Zeitungen Fehler in Artikeln stehen bleiben, könnte man auf die Idee kommen, dass es nicht notwendig sei. Dem stimme ich aber nicht zu. Ich denke, dass ein Text, der Fehler enthält, doch negativ wirkt.

Silvana: Eine Kollegin von mir hat neulich gesagt: „Unser Beruf ist auf dem absteigenden Ast; wir sterben irgendwann aus.“ Ich denke ebenfalls, dass unser Job im Laufe der Zeit an Relevanz verlieren wird. Zumal Sprache aufgrund der neuen Medien immer schnelllebiger wird. Texte werden überflogen, weniger gelesen und sind morgen auch schon wieder unwichtig. Das ist aber eine Frage, die man an die Gesellschaft weitergeben muss: Wie wichtig ist ihr korrekter Sprachgebrauch? Das können wir Lektoren letztendlich gar nicht entscheiden.

Jörg: Der schriftliche Sprachgebrauch schwindet zunehmend. Er wird nicht komplett verschwinden, aber doch abnehmen.

Silvana: Aber auch der mündliche Sprachgebrauch nimmt ab. Man kommuniziert nur noch per Nachrichten, und die sollen dann auch möglichst kurz sein. Es gibt sowohl mündlich als auch schriftlich die Tendenz zur Verknappung.

Fällt jetzt so düster aus, das Ende …

Silvana: Deshalb zum Schluss: Ich schreibe jedes Jahr mindestens 40 Weihnachtskarten an alle Lieben, handschriftlich. Das mache ich seit Jahr und Tag – und werde es machen, bis ich hundert bin.

Das ist ein schönes Schlusswort. Danke euch für das Gespräch!


Und hier wird das Lektorat zur Abwechslung einmal satirisch betrachet:
OffenBüro
Die Geburtstagskarte

2 Kommentare zu „„Gendern? Ein riesengroßer Popanz““

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