Die Geburtstagskarte

Jede Firma hat ihre Bräuche, manche originell, andere weniger. Bei uns kriegt das Geburtstagskind eine Geburtstagskarte – wie es unter anständigen Menschen üblich ist. Doch das Prozedere, das dazugehört, gehört sich eher nicht. Und doch muss es sein.

Denn jede Karte birgt ein Problem. Kalenderwoche für Kalenderwoche bangen die Kollegen aus den unteren Etagen, wenn die Karte zum Unterschreiben das erste Stockwerk erreicht. Dort sitzen die Lektoren, wir. Natürlich haben wir allerlei Anmerkungen zur jeweiligen Karte. Da wird schon mal in Rot ein Komma in die Glückwünsche hineinkorrigiert, über den ein oder anderen unglücklichen Ausdruck debattiert. Da wird überlegt, von wem nun dieser Schnitzer stammen könnte, nach wem es aussieht, da werden Strichlisten zur Fehlerhäufigkeit geführt und es wird zum Hörer gegriffen, wenn eine Grußkarte mal – was zugegebenermaßen selten vorkommt – fehlerfrei war. Dann, aber nur dann, gibt es ein Lob.

Das heißt jedoch nicht, dass Lektoren in solchen Fällen mit ihrem Latein am Ende wären. Da geht immer noch was: Man kann die Kartenmotive und die allgemeine Gestaltung besprechen, den Karteninhalt an sich interpretieren. Passt eine Hello-Kitty-Karte zu Lea? Wer hat das Herzchen in die sonst nüchterne Karte für Chris hineingeklebt? Wieso werden Unterschriften gefälscht und vor allem: wessen?

Die Hochzeitskarte für Lilly ließ viele Fragen offen: Warum war das eine Herz auf der Vorderseite kleiner als das andere? Stand das kleine Herz symbolisch für Lilly, das große für den ihr Anvermählten? Lag hier eine Geschlechterdiskriminierung vor? Warum war das eine Herz rot, das andere weiß? Rot war die Farbe der Liebe, klar. Liebte er sie nicht, sie ihn hingegen schon? Würde es nicht lange halten? Trotz dieser ungeklärten Fragen unterschrieben wir die Karte und ließen sie nach unten zurückgehen.

Und dann kam die Karte mit dem Schaumkuss. Ein brauner Schokokuss füllte etwa 54 Prozent der Motivkarte. Mit einer einzelnen Kerze darauf. Angezündet. Das an sich war schon sehr mager. Zudem konnte sich Konrad die psychedelischen Kreise dahinter nicht erklären. Der Hintergrund bestand aus glitzernden konzentrischen Kreisen in Blau. Was für eine Komposition! Ich merkte an, dass die Karte es wohl locker in die Top Ten der schlechtesten Grußkarten schaffen würde, packte noch einen drauf: „Ich glaube, so eine einfallslose Karte hatten wir hier oben noch nie.“

Diese Erkenntnis wollte ich mit Antonia teilen, die ich wenig später in der Küche traf. Konrad war mir vorausgegangen und stand an der Kaffeemaschine. „Die heutige Karte schlägt alle Hässlichkeitsrekorde“, sagte ich mit gewohnter Mitteilsamkeit, während ich meine Teekanne aus dem Küchenschrank holte. Ich wollte das Thema weiter ausführen, doch etwas stimmte nicht mit Antonias Gesichtsausdruck, so, als hätte sie in einen Schaumkuss nach Ablauf des Verfallsdatums gebissen.

Ich hielt inne, mein Gehirn machte Klack, Klack, wie im Zeitraffer. Konrad an der Kaffeemaschine lachte bereits. Ich stellte die Kanne ab, schaute zu Antonia, nein, erst zu Konrad, dessen Lachen lauter wurde. Antonia sagte nur was von „Ich bin immer der dumme Idiot, an dem das Kartenaussuchen hängenbleibt“, Konrad konnte sich vor Lachen kaum noch halten. Ich hingegen war stumm. Zum ersten Mal seit Langem. Antonia schnitt sich ein Stück vom Kuchen des heutigen Geburtstagskindes – des mit der hässlichen Karte – ab, während Konrad ganz offensichtlich eine spastische Lähmung in der Bauchgegend hatte und mit aller Mühe ausstieß: „Jahrelange Freundschaft … endet wegen einer Geburtstagskarte …“

Stimmt, Antonia und ich, wir kannten uns nun schon seit sechs Jahren und haben in zwei Firmen zusammengearbeitet, gingen abends zusammen weg. Aber dass das jetzt so …

Wie ein Klappmesser zusammengekrümmt sah mein Mitlektor aus, konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, der Arme. Was blieb mir übrig, als ebenfalls in das Gelächter einzustimmen. Ich hielt mich am Stuhl fest, damit ich nicht umfiel. Antonia verließ die Küche.

Die würde ich später beruhigen.


Wie ticken Lektoren eigentlich? Welchen Blick haben sie auf die sich wandelnde Sprache? Schau gern ins Interview: „Gendern? Ein riesengroßer Popanz“

Titelbild: © iStock/Sviatlana Barchan

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