Sonnenfinsternisse

11.08.1999

An jedem Uferabschnitt vom Balaton wurden sie verkauft, sogar der Straßenhändler mit dem Billigschnaps hatte welche da: große schwarze Plastikbrillen für ein ganz besonderes Ereignis, die totale Sonnenfinsternis in drei Tagen. Uns drei juckte das nicht besonders. Wir hatten eine Mission: eine Abenteuerautofahrt mit den Stationen Danzig, Warschau, Prag, Bratislava, Budapest, Balatonsee, Belgrad, Krakau und zurück nach Danzig, um meine Freundin Ola dort wieder abzuliefern. Mit knapp 800 Mark, aus denen rasch 797,50 Mark geworden wären, hätten wir uns zu einem Sonnenbrillen-Impulskauf hinreißen lassen. Ich zuckte mit den Schultern – wird schon nicht so wild sein.

Die Sonnenfinsternis überraschte uns in Melnica, einem Dorf im tiefsten Serbien, wo die Hunde an der Kette lagen, wo man noch ohne Helm Motorrad fuhr, wo der ärmste Dorfbewohner Zlatan Flöhe im Haus hatte und der Bekannte von Sladkos Vater unter Sliwowitzeinfluss nach der Trauung, statt den Hausschlüssel oben am Pfahl abzuschießen, seine Braut erschossen hatte – eine der Geschichten, die man sich noch Jahre später erzählte.

Das ganze Dorf war in Aufruhr wegen des Naturphänomens. Mit rechten Dingen konnte es da nicht zugehen. Deswegen wurden Sladko, Ola und ich, als wir die Sonnenfinsternis, die wir dann doch irgendwie interessant fanden, miterleben wollten, von Oma Petrović ins Haus gescheucht. Nein, auf keinen Fall durften wir draußen bleiben, das war dubios, verhieß Böses, dolmetschte Sladko. „Tante Golubica ist schon drin. Dragan auch. Kommt sofort rein. Mach zu, Sladko!“ Die Oma ging erbost zur Tür und zog sie mit einem Ruck zu.

Das war die erste Sonnenfinsternis.

22.07.2009

Wir schreiben das Jahr 2009, China, Shanghai, zwölfter Stock des Donghu-Hotels. Ich liege im Bett und werde um 12 Uhr unsanft von meinem Handy geweckt; trotz Jetlag ist es Zeit, wach zu werden, rise and shine. In liegender Position den Fernseher eingeschaltet und schon ist das Spektakel im Gange. Die Stimme des chinesischen Reporters überschlägt sich vor lauter chinesischen Wortkreationen; er kann sie selbst kaum aussprechen, klingt erstaunt. Und immer wieder ein Planet, der sich vor einen anderen schiebt. Danach Dunkelheit. Auch auf CNN sind sie begeistert. Dort erfahre ich endlich, wovon. In China, in Shanghai, da, da, da sei ja wohl die dollste Sonnenfinsternis im Gange. Ein Spektakel ohnegleichen. Tausende seien live dabei, viele hätten Meere, Berge, Schluchten überquert, um dort zu sein. Hier zu sein. So etwas hat die Menschheit nicht erlebt. Und ich mittendrin. Das bewegt mich dazu aufzustehen, den schweren Vorhang zur Seite zu schieben und gen Himmel zu blicken. Düster wie immer. Und bewölkt. Ich sehe grauen Himmel, sehe das graue Gebäude von gegenüber, keine Menschen, die sich vor Excitement überschlagen – weder wörtlich in Form von Purzelbäumen noch verbal in amerikanischem Englisch oder Chinesisch –, stelle das Fenster auf Kipp. Schwüle Luft dringt ins Zimmer, Autolärm. Ist das jetzt die Sonnenfinsternis? So genau kann ich es nicht sagen, hängt doch ein Fliegengitter vor der Scheibe. Ich gehe zurück zum Fernseher, sehe die Uhrzeit der Berichterstattung: 10.23 Uhr steht da.

Ich habe die Sonnenfinsternis verpennt.

20.03.2015

Zum dritten Mal verpasse ich sie ganz klassisch, in den heimatlichen Gefilden. Wer wird denn auch im März in der Weltgeschichte unterwegs sein? Inzwischen ist mir das mit der Finsternis auch wurscht.

Oder Moment mal: Ich verpasse sie nicht ganz, nur ein bisschen.

„Es geht los, es geht los!“ Mein Arbeitskollege Frank rennt an mir vorbei, die Treppe hinunter. Einige Raucher folgen ihm. Nach gut einer Stunde Malochen ist eine Pause durchaus angebracht, steht so in der Gesundheitsbroschüre, die ich vorige Woche lektoriert habe. Aufstehen entlastet die Wirbelsäule. Ich blicke meinen Lektoratskollegen Konrad an, sage: „Tja, schon blöd, dass wir keine Schutzbrille dabeihaben. Kommt auch irgendwie unerwartet.“ Er nickt, weist mich aber darauf hin, dass Kollegin Mandy etwas vorbereitet hätte.

„Echt?“ Ich mache mich auf zu Mandy, lasse die Raucher und Frank ihre Augen durch das direkte Hineinblicken ins Sonnenlicht verderben. Das können wir im Lektorat uns nicht leisten. Außerdem sind wir in der oberen Etage ohnehin viel weiter – Mandy hat was vorbereitet. Die strahlt, hält mir einen Pappdeckel entgegen: „Da!“

Ich verstehe nicht. Sie erklärt mir das komplizierte Verfahren: sich mit dem Rücken zum Fenster drehen, Pappdeckel so halten, dass die Sonne draufscheint, dahinter ein weiteres Blatt, sodass der Schatten der nicht vollständigen Sonne auf das Blatt trifft. Auflösung: 1 : 1.000.000.000. Ha! – Ich lächele dankbar und möglichst beglückt, während ich mir den Staubkornschatten auf dem Papier anschaue, gehe nach unten, ein Stockwerk tiefer, in die Kundenberatung.

„Und, hat sich jemand eine Schutzbrille besorgt?“, will ich wissen.

„Nö, die sind alle bei Tanja in der Buchhaltung. Die soll eine Schweißerbrille dabeihaben.“

In der Tür zu Tanjas Raum kommen mir andere entgegen.

Ich bin neugierig: „Und?“

„Jo, nicht schlecht.“

Tanja ist überrascht, mich bei sich zu sehen, lässt mich aber eintreten. Hier die Schweißerbrille. Da die Sonne – sie deutet aufs Fenster. Ich sehe nix.

„Ist das normal, wenn man nichts sieht?“, frage ich mit schwerer Brille vor dem Gesicht. Habe ja schließlich noch nie eine Sonnenfinsternis miterlebt.

„Du guckst in die falsche Richtung, Andrea. Weiter oben, rechts.“

Ach da! Ich entdecke einen leuchtenden Himmelskörper, der eine Hörnchenform hat, präge mir das Bild ein, damit ich Enkelkindern davon erzählen kann, doch in dem Zimmer mit heruntergelassener Jalousie kommt so gar keine Sonnenfinsternisatmosphäre auf. Beim Herausgehen treffe ich auf Frank, der spitzgekriegt hat, dass in der Buchhaltung was läuft, und höre, als ich schon auf der Treppe bin, Tanja zu ihm sagen, sie würde eigentlich gern die Gehälter machen.

„Egal, ich hab noch Geld auf dem Konto“, antwortet Frank und schnappt sich die Schweißerbrille. Unter den Rauchern hat sich herumgesprochen, dass im ersten Stock des Altbaus was geht.

„Tanja wollte die Gehälter machen“, informiere ich sie im Vorbeigehen, doch beirren lassen sich nicht. Geld ist nicht alles. Zurück an meinem Arbeitsplatz empfängt mich eine Weltuntergangsstimmung: Stille in Kombination mit gedämpftem Tageslicht. Kollege Konrad ist wenig beeindruckt und sitzt reglos über sein Pult gebeugt. Auf mein vorgebrachtes Unverständnis entgegnet er, er hätte andere Interessen, als dauernd Sonnenfinsternisse zu verpassen.

Titelfoto: © iStock/DKosig