Käffchen in Wilhelmsburg

Andreas? Andreas war die Ausbeute einer Nacht in einem kostenlosen Singleportal. Einfach mal, ups, vergessen, mich auszuloggen und so dachte die gesamte männliche Onlinebevölkerung, ich würde mir die Nächte männersuchend am PC um die Ohren schlagen. Am Morgen die Ernte eingefahren: 20 Nachrichten im Postfach. Unwichtiges – klick, klick – ausgesiebt, dazwischen Andreas, 46 – nicht ganz mein Alter. Andreas mit dem beklagenswerten Nick Forever_you. Herrgott, das ist doch wieder einer von den hoffnungslosen Romantikern, die die eine – und keine andere – bis zum bitteren Lebensende suchen, die sich festklammern, die fragil, bedürftig sind und nichts aushalten. Dankbar für alles sind. Ein wenig korpulent war er auch. Aber Texter! Es kann nie schaden, sich mit kreativen Leuten zu umgeben. Ein Freelancer – arbeitslos vielleicht? Ein Freelancer kann alles und nichts sein. Sehr begierig auf ein Treffen, der Gute. Dick und unattraktiv wird er sein. Ein Treffen also, na gut.

Können Sie sich an das Defragmentieren der Festplatte erinnern, damals, unter Windows 95? Da drückte man aufs Knöpfchen, und die roten Balken auf Laufwerk C wurden auf die roten geschichtet, die blauen auf die blauen – es ratterte solange, bis jeder farbige Balken, der vorher irgendwo auf der Festplatte einen Zufluchtsort gefunden hatte, ordnungsgemäß an seinem Platz, in seinem Tribe, war. Die Ordnung war wiederhergestellt.

Genau so ratterte die Festplatte meines Hirns in den ersten zehn Minuten unseres Dates. Ein Umschichten von Informationen – andere gedankliche Prozesse und alles Verbale fernab von „Hallo, ich bin die Andrea, wer bist du?“ musste warten. – Ich meine: Da geht man morgens um 13 Uhr halbwegs gelangweilt an den Rechner, klickt ein Profil an, betrachtet ein Bild oder lässt es sein, klickt sich im Posteingang durch Erkundigungen nach dem Wochenende, liest was zum nächsten Urlaub, zur Schuhgröße des Gegenübers, korrespondiert mit ButziBärchen und TollenStechern0815. Dann fällt das Signalwort Texter. Von da an war alles anders: Der Typ konnte drei Arme haben, du würdest ihn trotzdem treffen. Flüchtig das Profil überflogen – wird schon gut sein. Was Ordentliches angezogen. Handtasche – ja, nein, ja – damit kannst du bloß nichts transportieren – nein. Also Rucksack – wird schon gut sein. Hohe Absätze? Eigentlich ja. Aber es ist kalt draußen und überhaupt, du weißt schon. Das Return on Investment verspricht in diesem Fall, gering auszufallen – wird schon gehen mit flachen Schuhen.

Und dann merkst du beim ersten Blick auf ihn, dass du am Arsch bist. Vollgepackt mit Fantasievorstellungen, Halbwahrheiten, Fehlinterpretationen. Vor mir stand ein stattliches Exemplar. Die Festplatte musste komplett neu fragmentiert werden. Und es fing an zu rattern …

Neben diesem stattlichen und nicht weniger breitschultrigen Andreas trippelte ich durch Wilhelmsburg, den – wie drücke ich es am besten aus? – originellsten Stadtteil von Hamburg. Graue Klotzbauten, schwach beleuchtete Kaschemmen, die auf so poetische Namen wie „Der Saufbrunnen“ hörten und in denen Heinz-Herbert tagein, tagaus nach seinem Kurzen verlangte. Und einem Bier zum Runterspülen. Trostlose Ecken, die Bäume schienen bereits im Frühjahr vergilbt und Bello traute sich nur mit Begleitschutz auf die Straße. Und statt des Silberstreifs und des Horizonts ein Migrationshintergrund. Den hatte hier sogar jeder zweite Kläffer. Doch wieso fanden wir uns ausgerechnet hier wieder? Lassen Sie es mich erklären.

Krank im Bett lag ich. Krank im Bett und verzweifelt, weil seit sechs Tagen im Bett. Da trudelte eine SMS von Andreas ein, dass er mich zur Aufmunterung zu einem Mittagssüppchen in der Umgebung einladen wolle – Sie merken es bereits: Das erste Date war gut gelaufen. „Süppchen schlürfen klingt gut“, überlegte ich. „Aber, oh mein Gott, unsere Personalerin wohnt zwei Straßen weiter!“ Ich erbat mir eine Bedenkfrist bis zum darauffolgenden Tag.

„Nein, Andreas“, im meldete mich telefonisch. „Das wird leider nicht klappen. Zu heikel.“

„Dann fahren wir nach Winterhude.“ Der zweite Vorschlag.

„Boah, nee, zu beliebt. Zu viele Leute.“

„Barmbek?“

„Oh nein! Teamleiter wohnt da.“

„Eppendorf?“

„Nein, Andreas“, sagte ich bestimmt. „Das ist wirklich zu gefährlich.“

Während er mir erläuterte, dass man ein zum Genesungsprozess beitragendes Süppchen arbeitsrechtlich auch in krankgeschriebenem Zustand genießen dürfe, reifte in mir ein Plan.

„Andreas, ich habs.“

„Naaa …?“

„Ich treffe mich nur mit dir, wenn wir nicht nach Winterhude fahren, sondern nach Will-hellms-burg.“

Stille am anderen Ende der Leitung.

„Andreas?“

„Das ist nicht dein Ernst?!“

„Doch. Wilhelmsburg ist der einzige Stadtteil, bei dem ich sicher sein kann, auf niemanden von der Firma zu stoßen.“ Kein normaler Mensch ohne Jägermesser oder wenigstens die Einsteigervariante von Heckler & Koch traut sich hierher. „Ist das nicht genial?“

Andreas war nicht überzeugt.

Sechs Stunden später sitze ich in seinem Wagen, wir düsen über die Elbbrücken Richtung Wilhelmsburg und überlegen, ob ich am Montag meinen Teamleiter anrufen werde, um ihm zu sagen: „Ralle, ich kann heute nicht zur Arbeit kommen. Hab da ein Messer zwischen den Rippen …“ Oder ob Ralle just heute auf die Idee gekommen war, seine Jugendfreunde zu besuchen. In Wilhelmsburg.

Wir haben keine Parkplatzprobleme, steigen aus und schlängelten uns vorbei an düsteren, gebückten Typen – ich aufgedonnert und im Minirock zur Feier des Dates, den Bodyguard Andreas gleich an meiner Seite. Wir haben die Wahl: einen mazedonischen Kulturverein oder einen albanischen. Leuchtstoffröhren verbreiten stimmungsvolles Licht in beiden Kulturvereinen e. V. An mitreißend-rhythmischer Musik fehlt es weder hier noch dort und gut besucht sind sie allemal. Allerdings werde ich von Kultur allein nicht satt, habe Hunger. Der Kühlschrank ist nach sechs Tagen Krankheit leergeplündert. Im oberen Fach nur Mie-Nudeln und am Vormittag hatte ich sogar die Gelegenheit, sie auszuprobieren. Sie waren wirklich praktisch: Einfach ins kochende Wasser werfen, drei Minuten ziehen lassen – fertig ist ein Gericht, das ganz neutral nach nichts schmeckt. Diese Nudeln schmeckten nicht einmal nach Nudeln. Andreas erkennt die Situation und steuert auf einen Imbiss zu: „Empire of Dönerkebab“. Ich bestelle mir einen Kaffee und Pommes mit Mayo. Andreas hat richtig Kohldampf und nimmt einen Hamburger und einen Döner. Es geht schnell, man ist gut organisiert. Der Dönermann schabt hier ein bisschen, rührt dort ein wenig – et voilà: Meine Pommes mitsamt Kaffee stehen vor mir auf dem Tisch, Andreas bekommt seinen Döner.

„Danke“, sagt er. „Kommt der Hamburger später?“

Fragender Blick.

„Also, ich hatte ja einen Hamburger und einen Döner bestellt.“

„Ach so!“ Das Gesicht hellt sich schlagartig auf. „Hamburger geschwupst in Döner!“

Ach so, na klar. Andreas setzt an, will etwas sagen, doch ihm fällt ein, dass wir ja in Wilhelmsburg sind. Hier ist man anders.

Erstaunlich lange Zeit verbringen wir in diesem Dönerkebabimperium. Die simplen Plastikstühle, die mit Ketchupklecksen verzierte Plastikdecke, die sich dahinziehende Musik, bei der man nicht weiß, ob ein Stück noch läuft oder das nächste bereits angefangen hat, das alles vermittelt uns eine neue Qualität des Seins; es ist ein Erlebnis, das alle Sinne berührt. Nur schwer können wir uns losreißen, machen eine Spritztour bei Dämmerung durch das Hafengebiet, um anschließend noch gut und günstig für mich einzukaufen. Wegen der Mie-Nudeln. Und während ich so im Laden stehe, tiefgefrorene Würstchen, halal, in der Hand, dringt zu mir durch, dass wir gar nicht mehr in Wilhelmsburg sind, sondern wieder im richtigen Hamburg, am Berliner Tor. Was würde der Kollege sagen, der mich mit halalen Würstchen – oder wie auch immer man das dekliniert –, Disco-Outfit, riesigem Schlapphut und Schminke im Gesicht, krankgeschrieben, vor der Tiefkühltruhe stehen sieht? Wer von der Belegschaft wohnte noch mal am Berliner Tor? Andreas leiht mir seine Jacke, um mich zu neutralisieren, alles läuft glatt und um 21 Uhr stehe ich nach wie vor gut gestylt und mit zwei Plastiktüten in den Händen wieder vor meiner Haustür. Andreas kurbelt die Autoscheibe herunter, ruft mir hinterher: „Nächstes Mal Castrop-Rauxel?“

Oder lieber doch ganz anders daten? Irgendwo, wo es mehr um die inneren Werte geht? Hier entlang: „A very blind date“
Wer es eilig hat, heiratet lieber gleich: Blondes Haarteil, verzweifelt gesucht

Titelbild: © iStock/kama71

2 Kommentare zu „Käffchen in Wilhelmsburg“

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