Tischgespräche: Toleranz

Ist Toleranz etwas Notwendiges oder bloß nettes Beiwerk?

Jessica: Laut Lehrbuch sollte man ja tolerant sein.

Elke: Richtig – wenn eine Gesellschaft funktionieren soll, müssten wir alle tolerant sein.

Jessica: Aber die Gesellschaft funktioniert trotzdem, obwohl so einige es nicht sind.

Elke: Sieht dir doch die Gesellschaft an!

Moritz: Ich muss doch nicht jedem gegenüber tolerant sein – zum Beispiel nicht, wenn ich jemanden nicht mag. Wenn Toleranz Pflicht wäre, müsste ich alle tolerieren.

Elke: Pflicht ist nie gut. Pflicht bedeutet immer Druck und Zwang. Toleranz heißt nicht, dass ich deiner Meinung sein muss. Du hast eine ganz andere Meinung als ich, aber ich toleriere das; wir müssen nicht darüber streiten. Wer jemanden überzeugen oder überreden möchte, der toleriert die andere Meinung nicht.

Moritz: Trotzdem hat Toleranz ihre Grenzen, nämlich sobald etwas mich persönlich angeht und ich mich dadurch gestört fühle. Nehmen wir mal an, neben mir steht einer und droht mir Gewalt an – das muss ich nicht tolerieren. Da kann ich denken: „Blöder Asi, lass mich in Ruhe.“

Elke: Dann begibst du dich aber auf die gleiche Ebene. Du kannst auch einfach freundlich sein und ihm sagen, dass er dich in Ruhe lassen soll.

Moritz: Ich muss ihm ja nicht ins Gesicht sagen, was ich denke.

Elke: Auch schon Gedanken bewirken was in dir. Wenn ich wiederum freundlich auf etwas reagiere, erlebe ich nichts Böses.

Christoph: Ich unterscheide für mich mittlerweile die beiden Begriffe „warme Toleranz“ und „kalte Toleranz“. Bei der kalten Toleranz denke ich: „Moritz, du kannst denken, was du willst, aber lass mich mit deinem Scheiß in Ruhe.“ Warme Toleranz wäre: „Du kannst denken, was du willst – und ich würds gern ein bisschen verstehen. Magst du nicht mal erzählen, warum du so anders deutest als ich?“ Es gibt diese gepredigte Toleranz, bei der es heißt: Jeder kann denken, was er will, aber der soll es bloß nicht hier reintragen.

Elke: Nehmen wir doch einmal ein anderes Beispiel: Ich bin ein esoterischer Mensch und du gar nicht, Moritz.

Moritz: Das ist für mich auch gucci, weil es mich nicht beeinträchtigt. Es gibt ja in dem Bereich nichts, womit du mich ärgern könntest oder wodurch ich mich gestört fühlen könnte.

Elke: Ich will dich ja auch nicht überzeugen. Ich toleriere, dass du damit nichts am Hut hast.

Moritz: Das ist durchaus auch etwas, was man tolerieren kann. Aber es gibt auch andere Fälle.

Elke: Zum Beispiel wenn jemand hinter meinem Rücken schlecht über mich redet. Da ist meine Toleranz am Ende. Auch wenn ich weiß, dass das im Grunde ein unglücklicher Mensch ist, der mit sich selbst im Unreinen ist und andere verletzen will, die zufriedener sind. Das verstehe ich dann, tolerieren kann ich es dennoch nicht.

Christoph: Nein, weil es ein asoziales Verhalten ist.

Elke: Wenn ich so etwas toleriere, erlaube ich es der Person ja.

Christoph: Das wäre dann Selbstverleugnung.

Moritz: Nehmen wir mal an, jemand bei der Arbeit geht mir auf den Zeiger – er redet mir ständig rein. Das muss ich nicht tolerieren.

Christoph: Dich nicht ausreden zu lassen, nicht zuhören, ist irgendwo auch asoziales Verhalten. Das gilt gewissermaßen schon für das Unterbrechen.

Moritz: Letztendlich zieht jeder irgendwo seine Grenze.

Jessica: Ich habe für mich gemerkt, dass ich nicht in allen Situationen tolerant bin. Es heißt, man hätte Schwierigkeiten damit, Dinge zu tolerieren, die einen an der eigenen Person stören. Ein Beispiel: Wenn jemand zu spät kommt und mich ärgert das, dann habe ich mit mir selbst ein Problem im Hinblick auf das Zuspätkommen. Mich ärgert ja nicht alles, sondern nur Dinge, die bei mir nicht stimmen.

Elke: Es kann jedem mal passieren, zu spät zu kommen, aber wenn es grundsätzlich ist, ist meine Toleranz am Ende. Das ist eine Missachtung meiner Person.

Jessica: Ich habe trotzdem Schwierigkeiten damit, wenn jemand sehr anders denkt als ich. Wir sind ja alle anders gestrickt. Manche Persönlichkeitsmerkmale widerstreben mir; ich würde niemals so handeln wie diese Personen. Es fehlt mir schwer, das zu tolerieren. Ich bin gerade dabei, das zu lernen.

Elke: Hast du denn versucht, diesen Menschen zu verstehen und dich zu fragen, warum er oder sie das macht? Dann fällt die Toleranz oft einfacher.

Jessica: Es ist schwer, in Menschen reinzugucken. Viele sind für mich eine Art Blackbox und ich habe keine Ahnung, was in ihnen vorgeht. Deshalb ärgere ich mich oft.

Elke: Hast du mit demjenigen dann gesprochen? Aus meiner Sicht kann man im Gespräch ganz viel klären. Ganz häufig sind das Missverständnisse.

Jessica: Oft aber auch nicht. Im Prinzip ticken wir Menschen wirklich unterschiedlich, andere haben eine diametral andere Auffassung von Dingen, und das kann ich nicht nachvollziehen. Ein Beispiel: Ich schreibe meinem Partner eine Nachricht und er antwortet drei Tage später, obwohl der Messenger längst zwei blaue Häkchen zeigt. Das ist in meiner Welt nicht okay.

Elke: Es geht auch darum, worauf gerade geantwortet wird: Ist es etwas Wichtiges oder eher etwas Lapidares?

Jessica: Ich denke, Kommunikation funktioniert so, dass man etwas schreibt und darauf auch eine Antwort erwartet. Sonst könnte man es lassen. Ansonsten könnte ich mir das, was ich zu sagen habe, ausdrucken und an die Wand hängen.

Christoph: Ich verstehe das. Das wäre eine Beziehungsnähe, mit der man ausdrückt: Ich sehe deine Frage, ich sehe dein Bedürfnis und darauf gebe ich ein Signal. Und wenn ich nur sage: Tut mir leid, ich habe im Augenblick keine Zeit, darauf zu antworten. Aber ich will dir auf jeden Fall antworten, denn du bist mir wichtig genug. Das wäre ja die Mindestanforderung, dann fühlst du dich gesehen. Das finde ich essenziell für gesunde, gute und tragfähige Beziehungen.

Elke: Aber genau das können viele Männer nicht.

Christoph: Je nachdem. Lass uns nicht verallgemeinern.

Elke: Das ist meine Erfahrung.

Christoph: Dann benenn deine Männer und sag: Egon und Klaus – das wären lebendige, konkrete Geschichten. Ich mag das Verallgemeinere nicht; das bringt nichts.

Elke: Ich habe gesagt: viele Männer. Nicht: die Männer. Das ist schon ein großer Unterschied. Und außerdem geht es nicht allein um meine Erfahrungen; ich höre das auch aus meinem Bekanntenkreis.

Christoph: Trotzdem. Welchen Gehalt hat das? Ich mags gern konkret.

Elke: Konkret ist es so, dass Männer mehr im Kopf sind und Frauen mehr im Herzen; das ist schon aus der Mutterrolle heraus so.

Christoph: Was nützt uns diese Generalisierung? Warum brauchst du dieses Statement?

Elke: Weil viele Männer das einfach nicht so fühlen wie wir. Die sind dann eher im Kopf – aber der Gedanke, dass Jessica vielleicht verletzt ist, weil sie auf eine Antwort wartet, kommt häufig nicht. Weil Männer das einfach nicht spüren.

Christoph: Sie haben das Bedürfnis des anderen nicht auf ihrer Landkarte.

Elke: Ja.

Christoph: Das ist ein Beziehungsmangel. Aber dann wäre es auch wichtig, dass die Frau ihr Bedürfnis ohne Anklage mitteilt. Für mich wäre das selbstverständlich. Wenn ich mit einer Frau zusammen bin, dann soll es ihr doch gutgehen. Und wenn ich fünf Tage keine Zeit habe; es soll ihr trotzdem gutgehen. Die Bedürfnisse des anderen auf der eigenen Landkarte zu haben, ist eine Schlüsselkompetenz.

Elke: Das ist sowieso meine Devise: Wenn etwas nicht in Ordnung ist: darüber reden. Am besten von Angesicht zu Angesicht, auf gar keinen Fall schreiben.

Jessica: Wir schweifen vom Thema ab. Aber dennoch: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass das Darüberreden nicht immer hilft.

Elke: Aha?

Jessica: Es gibt Leute, die das so nicht kennen. Die Dinge lieber unter den Teppich kehren. Ich kenne genug solche Menschen. Dann gibt’s einen Kontaktabbruch und irgendwann fängt man wieder an, als wär nichts gewesen. Die alte Schule.

Christoph: Aber auch was Gestörtes. Jemand, der dich in diesem wichtigen Bedürfnis überhaupt nicht achtet, dieses Bedürfnis gar nicht wahrnimmt – hat ein gestörtes Verhältnis dir gegenüber. Das gehört aus meiner Sicht zu einer Verbindung dazu. Wenn Menschen liebevoll verbunden sind, ist das ein wechselseitiges Verbunden-sein-Wollen mit dem, was im anderen passiert. Das macht Beziehungen aus. Dass man sich für das innere Erleben des anderen interessiert.

Jessica: Ich denke, viele kennen diese Dimensionen gar nicht, weil sie nicht an sich arbeiten.

Christoph: Die wollen nur ihren Spaß.

Jessica: Nicht zwingend.

Elke: Die sind einfach nicht fähig, sich in jemand anderen hineinzuversetzen.

Moritz: Haben wenig Empathie.

Christoph: Aber Empathiemangel ist doch eine tiefe Beziehungsstörung. Man kann doch gar nicht in Beziehung sein, wenn man zu Empathie nicht in der Lage ist.

Elke: Das ist schon richtig, aber es gibt viele, die nicht empathisch sind.

Christoph: Das ist eine tief gestörte Gesellschaft. All das entspringt den Ausbeuterstrukturen.

Elke: Es gibt Menschen, die koppeln sich schon zum Schutz von ihren Gefühlen ab. Wer eine Mauer um sein Herz baut, um nicht mehr verletzt zu werden, der kann auch nicht empathisch sein.

Moritz: Aber auch da gibt’s Graubereiche.

Elke: Das ist eine Schutzmaßnahme, die einem nicht bewusst ist. Unser toller Körper schützt sich damit. Aber er begreift nicht, dass es später eine Zeit gibt, wo der Schutz nicht mehr nötig ist. Dann sind wir selbst gefordert, hinzugucken und das aufzulösen. Wenn wir das nicht machen, bleibt diese Mauer. Die Menschen sind meist auch nicht zu tiefen Gefühlen wie Liebe fähig. Weil sie sich selbst nicht lieben können. Da kannst du auch keine Empathie erwarten.

Christoph: Empathie ist im Prinzip die fantasievolle Nachbildung der Innenwelt eines anderen. Dazu muss man wissen, wie es sich anfühlt, verlassen und hilflos zu sein. Du musst also deine eigenen Gefühle gut sortiert haben. Gerade was das Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit angeht, bin ich durch die Hölle gegangen. Ich habe das exzessiv mit narzisstischen Personen erlebt und es dadurch sozusagen fühlen dürfen. Ganz in „real life“, nicht in einer künstlichen Situation. Im Nachhinein war das der Booster in meinem Sprechen über meine Gefühle und dafür, in meiner Wahrnehmung der Gefühle von anderen hellwach zu sein. Das ist so großartig. Ich würde von mir behaupten, ich kann mir bei jedem Menschen eine fantasievolle Vorstellung davon machen, was für eine Seele das ist: wie warm, wie liebevoll, welche Charakterfarben in ihm sind. Und zwar zwischen den Zeilen. Die Person mag sich verstellen – ich habe trotzdem ein Bild davon, wie warm sie ist. Und die wärmsten Leute, die ich kennengelernt habe, sind die kleinen Kinder. Die wollen sich nur verbinden, feiern: „Juhu, wir sind zusammen. Welchen Unfug können wir machen?“

Elke: Die sind ja auch noch unschuldig. Sie sind noch nicht so stark manipuliert worden wie wir.

Christoph: Unverdorben. Wobei es natürlich auf das Elternhaus ankommt.

Moritz: Sind kleine Kinder in jedem Fall tolerant?

Elke: Kinder sind nicht tolerant. Kinder können grausam sein.

Christoph: Ein geliebtes Kind ist hochtolerant. Mein Sohn und zwei andere Kinder, die ich betreut habe, das waren meine größten Lehrer in Sachen Liebe, Intelligenz und Empathie. Wenn Kinder eine Grundfreundlichkeit kriegen, sind sie die menschlichsten Menschen auf der ganzen Welt. Und wir versauen sie mit unseren eigenen feindlichen Ideen.

Hat dir dieser Gesprächsauszug gefallen? Hier geht es zu weiteren Tischgesprächen. Möchtest du vielleicht selbst an unseren Tischgesprächen teilnehmen? Dann klicke hier.

Titelbild: © iStock/khoroshkov