„Es ist fast schon eine Anstrengung, den Kopf mal auszuschalten“

Lukas macht einen ganz normalen Eindruck … doch das täuscht. Zumindest wenn man den Maßstab der Intelligenz anlegt. Er gehört nämlich zu den 2 Prozent Hochbegabten in Deutschland. Wie es sich damit lebt, erzählt der Endfünfziger in diesem Gespräch.

Wir starten natürlich gleich mit der wichtigsten Frage: Welchen IQ hast du?

Einen, der mindestens 130 beträgt.

Details möchtest du also nicht verraten?

Alles andere ist bei Mensa, dem Verein für Menschen mit einem hohen Intelligenzquotienten, nicht relevant. Es ist verpönt, die anderen nach ihrem IQ zu fragen. Es gibt Mitglieder, die zugleich in der Triple Nine Society sind – damit gehören sie zu denjenigen mit einem höheren IQ als 99,9 Prozent der Bevölkerung, also mindestens 146. Manche halten mit ihrer Doppelmitgliedschaft nicht hinterm Berg. Aber ansonsten ist es nicht wichtig. Du bist qualifiziert oder eben nicht. Das ist das Kriterium, das in Tests abgefragt wird. – Es gibt Menschen in meinem Umfeld, die wissen, wie hoch mein IQ ist, aber das ist ein enger Kreis. Bei Mensa weiß es nur einer.

Wie fühlt man sich, wenn man klüger ist als die meisten anderen Menschen?

Mal gut, mal weniger gut. Es kann sehr anstrengend sein, aber auch sehr beruhigend. Unter Mensanern fühle ich mich gut aufgehoben, weil da die Kommunikation ganz anders abläuft: Du musst nichts zweimal erklären. Anstrengend wird es, wenn du viel mit Leuten zu tun hast, die deinen Gedankengängen, deinen Gedankensprüngen, deinem Um-die-Ecke-Denken nicht folgen können. Bei einem monatlichen Mensa-Treffen kann man dann aber wiederum man selbst sein.

Stichwort Um-die-Ecke-Denken: Bist du kreativ?

Sprachlich schon. Aber basteln, kneten, malen, werkeln waren mir schon zu Schulzeiten ein Graus. Wenn es so etwas wie zwei linke Hände gibt, dann habe ich bestimmt beide. Künstlerische Tätigkeiten haben mich auch nie interessiert. Bei Mensa gibt es auch großartige Künstler, die ein gewisses Renommee haben, aber ich selbst bin wahnsinnig unkreativ.

Wobei es heißt, Kreativität sei auch die Fähigkeit, Lösungen zu finden. Andere Ansätze für bestehende oder neue Probleme.

In dem Sinne bin ich schon kreativ. Manchmal habe ich Dinge vor Augen und denke: Warum kommen die anderen nicht darauf?! Schlussfolgerungen zu ziehen, andere Lösungsansätze auch nur in Betracht zu ziehen, neben der eingefahrenen Spur zu laufen – das hat schon seinen Reiz. Im rein geistigen Sinne bin ich dann doch kreativ, künstlerisch ist es bei mir schwierig.

Du sagtest eben, es sei anstrengend, klüger zu sein als andere. Weswegen genau?

Ich denke, der große Unterschied zwischen Mensanern und den anderen 98 Prozent liegt in der Kommunikation. Ein Beispiel: Ich habe eine Arbeitskollegin, mit der kommuniziere ich reibungslos. Wir wissen beide, was wir mitteilen wollen, machen dies ganz direkt, ohne Umwege und in einer relativ hohen Dichte. Das ist sehr effizient. Andersherum ist es aber so: Wenn ich etwas sage und merke, das Gegenüber kann mir gerade nicht folgen – das kommt ja manchmal vor –, dann kann es schon anstrengend werden. Dann versuche ich, es anders darzustellen, aber an manchen Punkten wird es wirklich schwierig.

Wenn man dich kennt, machst du erstmal einen „ganz normalen“ Eindruck …

Es gibt auch Leute, die das anders sehen.

Bist du anders als andere? Und wie äußert sich das?

Bei mir spielt sich vieles im Kopf ab. Es ist fast schon eine Anstrengung, den mal auszuschalten; er fordert permanent Input ein: Gib mir, gib mir, gib mir.

Was heißt das konkret?

Das heißt, dass mein Gehirn immer in Bewegung ist. Abschalten fällt mir schwer.

Worüber denkst du denn nach? Über die Probleme der Welt?

Ganz unterschiedlich. Es ist nicht so, dass ich nächtelang wach liegen würde, weil mich Dinge beschäftigen. Aber nicht zu denken, kann ich mir kaum vorstellen – weil ich es auch gar nicht erlebe. Irgendwas ist immer.

Wenn deine Frau dich also fragt: „Woran denkst du gerade?“, hättest du im Gegensatz zu anderen Männern immer eine Antwort.

Jaaaa. Ob ich sie jeweils äußern mag, steht auf einem anderen Blatt, aber ich hätte eine, ja. Und wenn ich mich damit beschäftige, dass ich gerade an nichts denke. Das ist auch ein Denken.

Das ist höchste Kunst – dann kommen wir in den Bereich Meditation. Kannst du das? Es klingt aber eher nicht danach.

Ich habe es nie ausprobiert, weil ich bisher nicht die Notwendigkeit dazu gesehen habe. Als Konzept finde ich es schon interessant. Ich selbst springe aber immer vom Hölzchen zum Stöckchen: Zuerst fange ich einen Satz an, dann fällt mir ein Seitenaspekt ein, den ich ausführe – ich weiß aus jahrzehntelanger Erfahrung, dass ich am Ende wieder auf den ursprünglichen Satz zurückkommen werde, aber nicht jedes Gegenüber weiß das. Wenn ich spreche, baue ich immer wieder ein Gebilde aus Schachtelgedanken auf, das ich am Ende aber wieder auflöse. Das ist auch ein Phänomen bei Mensa-Stammtischen: Du beginnst ein Thema, dann kommen acht andere Themen dazwischen. Zwanzig Minuten später kommst du auf die ursprüngliche Frage zurück und jeder weiß noch, an welcher Stelle im Gespräch ihr wart.

Wann hast du gemerkt, dass du anders bist als andere?

Schon zu Schulzeiten. Ein großes Problem war zu merken: Du bist schlauer als die Lehrer. Das hat oft zu Konflikten geführt. In der fünften Klasse hatte ich eine Geschichtslehrerin, die direkt von der Uni kam und eine pädagogische Niete war. Ihr Umgang mit Schülern war katastrophal. Damals war ich in einem Alter, wo ich das noch nicht weggedrückt habe. Ich habe sie deutlich spüren lassen, dass ich sie für einen intellektuellen Rohrkrepierer halte, und das hat mir in dem Fach und auch sonst nicht geholfen.

Und wie war das mit Mitschülern und Freunden?

Es ist unter Mensanern und potenziellen Mensanern so, dass sie sich Freunde suchen, die auf einem ähnlichen Level sind. Du musst dir nur den Freundeskreis von so jemandem anschauen: Er wird mindestens zu einem gewissen Teil mit Menschen bestückt sein, die da mithalten können und auch wollen. Bei meinen Kindern ist das auch extrem: Mein Sohn ist in der fünften Klasse getestet worden, weil ich der Schule nicht die Ausrede geben wollte, er sei dumm. Er ist nämlich nur faul, so wie ich. Er ist auf knapp 130 Punkte gekommen. Meine Tochter ist nie getestet worden, obwohl das immer mal wieder Thema war. Aber wenn ich mir deren Kontakte anschaue: Sie hat sich von der ersten Klasse an nur mit Leuten umgeben, die auch was auf dem Schirm hatten. Mein Sohn hat einen relativ überschaubaren Freundeskreis – er ist kein ganz so sozial begabter und effizienter Typ, aber die Freunde, die er in der Schulzeit hatte, sind durch die Bank hochgradig mensaverdächtig.

Wie findet man denn zueinander?

Bei allem Respekt: So, wie Homosexuelle sich erkennen, so erkennen sich Mensaner auch. Bei Homosexuellen ist es vielleicht etwas einfacher, weil hier Äußerlichkeiten eine große Rolle spielen. Ich war mal mit einem schwulen Kumpel in einer Schwulenkneipe, in der man allerdings ein gemischtes Publikum fand. Er hat dann rumgezeigt: der und der und der und der. Als Nichtschwuler stehst du daneben und denkst: Denen sieht man das doch gar nicht an! Er meinte nur: Doch, ich sehe das – wie sie sich geben, wie sie sich bewegen. Und so ähnlich ist es bei Hochintelligenten auf der mentalen Ebene. Vieles funktioniert da verbal. Wenn du dich mit Leuten unterhältst, dann merkst du, dass der Durchsatz an Informationen, die Qualität und die Tiefe schon anders sind als bei anderen Leuten.

Auf einem der Mensatreffen gab es eine Bedienung, die am Ende des Abends jedem Einzelnen genau sagen konnte, was er verzehrt hat, ohne sich etwas aufgeschrieben zu haben. Bei 30 Leuten. Wir hätten ihr fast ohne Test einen Mitgliedsantrag in die Hand gedrückt, weil wir das phänomenal fanden.

Viele Hochbegabte haben das Gefühl, nicht in diese Welt zu passen. Hast du das auch?

Nee, höchstens in manchen Situationen. Ich habe den Vorteil, dass ich keine extremen Marotten habe und ich relativ früh den Verdacht hatte, irgendwie anders zu sein. Das ist auch Charaktersache. Ich bin kein Mensch voller Weltschmerz.

Es gibt Situationen, die Hochbegabte meiden – Stammtische, Karneval, Stuhlkreise. So etwas hast du aber nicht?

Nein. Ich bin allerdings kein übermäßig sozialer Mensch und fühle mich wohl in Gesellschaft von Leuten, die ich kenne. Auf großen Mensa-Veranstaltungen, auf denen ich wenige kenne, fühle ich mich eher unwohl. Kleine, überschaubare Gruppen genieße ich deutlich mehr als Großveranstaltungen, wo sicherlich total spannende Leute herumlaufen, ich dann aber aus irgendwelchen Gründen nicht in der Lage bin, den Schritt zu machen, offen auf sie zuzugehen. Wobei ich mich in Fußballstadien, auf Rockkonzerten und auch auf Festivals durchaus gern aufhalte und mich dort wohlfühle. Gedränge an sich macht mir nichts aus. Wobei die soziale Interaktion dort natürlich deutlich geringer ist.

Jetzt springen wir wieder zurück zu deiner Schulzeit: Warst du ein Streber?

Nein, ich war ein elender fauler Sack. Ich bin Minimalist. Deshalb habe ich immer versucht, das Maximum mit einem minimalen Aufwand herauszuholen. In der Oberstufe funktionierte das nicht mehr, deshalb bin ich 14 Jahre zur Schule gegangen. In der Zeit habe ich aber auch nicht viel am Unterricht teilgenommen, sondern war lieber beim Skatspielen in einem benachbarten Café. Zu ausgewählten Stunden, die mir lagen und wo ich auch die Lehrer mochte, bin ich hingegangen und habe mich da durchlaviert, sodass ich am Ende genug Kurse mit fünf Punkten hatte. Das war bei meinem Sohn übrigens ähnlich: Auch er hat die Anforderungen fürs Abitur knapp erfüllt. Es ist, denke ich, eine Manifestation von Hochintelligenz, dass du Strukturen durchschaust. Dass du weißt, mit welchem Lehrer du wie umgehen musst, um wenigstens die Mindestanzahl an Punkten zu kriegen. Als Hochintelligenter durchschaust du, wie Systeme funktionieren und wie man sie sich zunutze machen kann. Das ist gerade in der Schule signifikant gewesen.

Im Vorgespräch hattest du erwähnt, dass du den Begriff Hochbegabung gar nicht magst. Warum sprichst du stattdessen von Hochintelligenz?

Weil Hochintelligenz der zutreffende Terminus ist. Das Ding heißt Intelligenztest und nicht Begabungstest. Und bei allem Respekt vor Leuten, die bei der Müllabfuhr arbeiten: Ein Müllmann, der in der gleichen Zeit doppelt so viele Tonnen leert wie seine Kollegen, ist auf seine spezielle Weise auch hochbegabt. Er hat aller Voraussicht nach einen Kniff entwickelt, der ihm das ermöglicht. Oder aber er hat natürliche Voraussetzungen dafür.

Begabungen sind vielfältig. Das Wort Begabung ist eher gleichzusetzen mit Talent – und nicht mit Kapazität. Wenn ich begabt bin, habe ich ein spezielles Talent für etwas. Dafür brauche ich nicht zwingend einen hohen IQ. Und wenn ich einen hohen IQ habe, kann ich längst nicht alles. Um beim Müllfahrerbeispiel zu bleiben: Wenn jemand käme und zu mir sagen würde: „Ab morgen bist du Müllfahrer“, wäre ich wahrscheinlich dem Gespött der Kollegen ausgesetzt, weil ich nichts auf die Reihe bekäme. Trotz aller Intelligenz. Weil es da auf ganz andere Dinge ankommt.

Du stammst ursprünglich nicht aus Hamburg. Sind dir bei den Mensa-Stammtischen deutschlandweit Unterschiede aufgefallen?

Ich habe mich schon früher auf den Stammtischen im Ruhrgebiet wahnsinnig wohl gefühlt, das machte richtig Spaß. Den Menschenschlag dort mag ich sehr gern. Dann kam Stuttgart: Dort sind die Leute anders, was sich natürlich auf den Stammtischen widerspiegelt. Ein Stammtisch in Hamburg ist ganz anders als in Stuttgart als in Düsseldorf als in Bochum. Das hat mit der Mentalität der Leute zu tun. Ein Mensa-Stammtisch voller Schwaben ist diametral anders als einer voller Westfalen.

Hast du aus deiner Hochintelligenz eigentlich etwas gemacht?

Nein.

Nein?!

Je nach Perspektive. Ich habe dadurch einen Job als Lokaljournalist gefunden, mit dem ich super zufrieden bin. Ich habe in dem Sinne nichts daraus gemacht, dass ich total viele Sachen kann und total viele Sachen weiß oder abwegige Hobbys habe – wie viele Mensaner. Dennoch bin ich zufrieden. Ich habe in dem Sinne etwas daraus gemacht, dass ich es mir zeit meines Lebens sehr bequem gemacht habe.

Man hätte ja noch viel anderes daraus machen können …

Hätte man. Aber ich bin trotzdem zufrieden. Ich fühle mich in meinem beruflichen Umfeld aber auch deshalb so wohl, weil viele meiner Kollegen aus meiner Sicht unter Mensa-Verdacht stehen und ich dort einen Austausch kriege, der dazu führt, dass ich nichts vermisse. Es gibt kreuzunglückliche Leute, die beruflich zwar auf einem hohen Niveau arbeiten, aber Kollegen haben, die da nicht mithalten können. Das ist bei mir zum Glück nicht so.

Es heißt, Hochintelligente könnten manche einfachsten Dinge nicht. Ist das tatsächlich so?

Das Spektrum bei Hochintelligenten ist wahnsinnig breit. Wenn du lange genug suchst, kriegst du innerhalb des Vereins alles, zum Beispiel Leute, die keine drei Schrauben zusammenstecken können. Andersherum hast du auch diejenigen, die ein effizientes System, Schrauben zusammenzustecken, erst erfinden. Aber ja, es gibt tatsächlich diejenigen, die nahezu „lebensuntüchtig“ sind. Und es gibt welche, für die es keine Probleme gibt, nur Lösungen. Und die dann innerhalb kürzester Zeit an den Punkt kommen zu sagen: „Aber das ist doch offensichtlich!“ Generalisierungen bei Mensa sind generell schwierig. (Er lacht.) Mensa ist ein Panoptikum von Skurrilitäten – auch dies mit einem Augenzwinkern versehen. Und es ist auch eine Gruppe von Leuten, die auf ihre Weise ganz normal sind.

Wo liegen denn deine Stärken? Was kannst du besonders gut?

Das ist die mit Abstand schwierigste Frage. Da habe ich mir noch keine Gedanken drum gemacht. Sachverhalte zu durchschauen wäre wohl die Antwort. Ganz aktuelles Beispiel: Als das mit Corona anfing und wir auf der Arbeit unser Teamessen abgesagt hatten, wollte ich es noch wahrnehmen und meinte: „Das wird zwei Jahre dauern.“ Alle anderen waren der Meinung, dass wir das in sechs Wochen durchziehen und dann wieder alles in Ordnung ist. Weil ich mir vergleichbare Fälle angeschaut hatte, war ich vom ersten Tag an darauf eingestellt, dass mein Leben zwei Jahre lang eingeschränkt sein würde. Gerade wurden alle Maßnahmen gelockert und ich liege fast auf den Tag genau richtig.

Das zweite Beispiel: Zwei Tage, nachdem die ersten Meldungen von Omikron auftauchten, habe ich gesagt: Es deutet alles darauf hin, dass dies die endemische Variante ist. Zwei Tage. Nicht zwei Wochen oder zwei Monate oder zwei Lauterbachs. Zwei Tage, nachdem in den Medien die Meldung auftauchte: In Südafrika ist eine neue Variante aufgetaucht, die wahnsinnig ansteckend und offensichtlich vergleichsweise harmlos ist. Ich sagte sofort: „Hey, da wollten wir hin! Wir haben eine endemische Variante. Die Leute sterben nicht mehr und der Ansteckungsfaktor ist hoch.“ Das ist jetzt vier, fünf Monate her. Es ist an der Zeit, das Maß der Normalität, das unter allen Einflussfaktoren wieder herstellbar ist, auch wieder herzustellen. 

Diese Weitsicht, dieses Eins-und-eins-Zusammenzählen und dann tatsächlich zwei herauszukriegen, das ist meine Stärke.

Dann hast du also eine gute Intuition?

Ja. Es ist ein Mix aus Dinge-zu-Ende-Denken und sich bei diesem Denkprozess nach der Intuition zu richten. Ein Mix aus Denkprozess und Bauchgefühl. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, dann kann ich das besonders gut: die beiden Ebenen zu mixen und auf mich selbst zu hören.

Es heißt oft, Hochintelligenz und Hochsensibilität gingen Hand in Hand. Hast du das so beobachtet?

Ja. Ich bin davon nicht betroffen, aber es gibt innerhalb von Mensa eine Special Interest Group zu dem Thema, die sich eines gewissen Zulaufs erfreut. Nach allem, was ich mitgekriegt habe, ist Hochsensibilität unter hochintelligenten Leuten signifikant weiter verbreitet als unter – es ist immer schwierig, hier den Kontrapunkt zu benennen – den anderen 98 Prozent, um es ganz neutral auszudrücken.

Wie ist das deiner Erfahrung nach mit der sozialen Kompetenz?

Genauso breit gestreut. Es gibt bei Mensa entsetzliche Schwätzer und dann auch wieder die Leute, die den ganzen Abend in ihrer Ecke sitzen und sich einfach nur freuen, dort zu sein. Es gab mal jemanden, der hat an manchen Abenden kein einziges Wort gesagt. Er hat sich einfach wohl gefühlt, weil er so sein durfte, wie er war, und hatte nicht das Bedürfnis, sich mitzuteilen. Er war aber unter Menschen, von denen er wusste, dass sie das tolerieren. Toleranz ist bei Mensa weit verbreitet. Jeder darf so sein, wie er ist. Es ist nirgendwo leichter für einen Mensaner, „normal“ zu sein, als bei einem Mensa-Stammtisch. Die meisten Menschen verbiegen sich an irgendeinem Punkt in ihrem Leben – im privaten oder beruflichen Bereich. Und bei Mensa-Zusammenkünften gibt es weder Grund noch Anlass, das zu tun.

Stichwort „du selbst sein“: Sind Mensaner schrullig oder kompliziert? Bist du es?

Auch da wieder: Bei Mensa kriegst du alles: von schrullig und kompliziert bis zu unschrullig und unkompliziert. Manche haben ihre Eigenheiten, allerdings auch nicht stärker ausgeprägt als andere Menschen. Nimm dir eine bestimmte Person aus einer Menschenmenge heraus und lebe mit ihr eine Woche lang zusammen; du wirst auf Schrullen und Eigenheiten stoßen. Vielleicht sind die Schrullen im Einzelfall etwas ausgeprägter, aber ansonsten halte ich das nicht für mensatypisch. Mit dem Konzept des Normalbürgers, der unschrullig wäre, konnte ich noch nie so viel anfangen. Letzten Endes sind doch alle Individuen.

Wobei ich der Meinung bin, dass es viele Leute gibt, die sich mit dem Durchschnitt zufriedengeben.

Wer definiert denn den Durchschnitt?

Ich verstehe darunter jene Menschen, die alles so machen, wie man es halt so macht.

Okay, wenn man das als Maßstab nimmt, hat man bei Mensa eine überdurchschnittliche Zahl von Menschen, die davon abweichen – teilweise bewusst, teilweise auch nicht. Aber insgesamt finde ich das Verhalten der Menschen dort nicht auffälliger als von jenen, die aus einem anderen Anlass zusammenfinden.

Danke für diese interessanten Einblicke, Lukas!

Titelbild: © iStock/francescoch