Tischgespräche: Heuchelei

Die Ausgangsfrage: Was verstehst du unter Heuchelei?

Jessica: Ich habe kürzlich jemanden als Heuchler bezeichnet: Dieser Mensch hatte mich per WhatsApp gefragt, wie es mir geht. Bereits das ist für mich geheuchelt. Wenn mich das Wohlergehen von jemandem tatsächlich interessiert, rufe ich an oder schlage ein Treffen vor. Zweites Beispiel: Jemand ist im Krankenhaus und ich weiß, es gehört sich, da nachzufragen. Also schreibe ich eine Nachricht. Wenn ich aber an der Person interessiert wäre, würde ich sie besuchen. Per WhatsApp tut man nur so, als hätte man Interesse.

Moritz: Ich könnte die Nachricht aber auch als Einstieg nutzen. Wenn dann zurückkommt, dass es der Person schlecht geht, kann ich darauf zurückkommen.

Elke: Ich habe einige um mich herum, die wirklich depressiv sind. Da rufe ich nicht einfach an. Die mögen im Moment vielleicht gar nicht sprechen. Da schreibe ich: „Wie geht es dir? Ist alles in Ordnung?“, schaue, was ich als Antwort bekomme, frage, ob wir miteinander sprechen wollen – und dann kann die Person das entscheiden. Es kommt immer darauf an, worum es geht und um wen es geht.

Jessica: Aus meiner Sicht befinden wir uns in einer WhatsApp-Gesellschaft. Niemand interessiert sich so wirklich für den anderen und hakt seine Pflichten damit ab, dass er per Kurznachricht kommuniziert. Das ist für mich Heuchelei.

Christoph: Eigentlich hat der Weg der Kontaktaufnahme nichts mit dem Interesse am anderen zu tun. Wobei heuchlerische Personen eher auf Nachrichten ausweichen. Trotzdem ist es voneinander unabhängig. Das geheuchelte Interesse ist ein Interesse, das nicht wirklich da ist. Das äußert sich zum Beispiel in der Alibianfrage „Wie geht’s dir?“. Als meine Mutter anrief und fragte, wie es mir ging, hatte ich eine halbe Minute Zeit, mir eine Antwort zu überlegen – und da erzählte sie schon, dass am nächsten Tag die Mülltonnen abgeholt würden. Das war hartes Training, das liebevoll zu deuten: dass es nicht böse gemeint war und nicht gegen mich ging. Sondern dass ihr Kopf so voll war von Sorgen und Kriegstraumata, dass sie sich nicht dafür interessierte, wie es mir ging. Das bekam ich auch mit; das darf sein. Meine Mutter war mein heftigster Trainingspartner.

Elke: Meine auch. (Lacht.)

Christoph: Aber ohne sie hätte ich nicht gelernt, dass etwas nicht unbedingt gegen mich gehen muss.

Moritz: Ich von meiner Seite kann sagen: Wenn ich an jemandem Interesse habe, kann es sein, dass ich über WhatsApp gehe – weil das einfach mein bester Kanal ist. Ich finde aber nicht, dass ich ein Heuchler bin.

Jessica: Das Ding ist: Es kommt meist nichts mehr nach. Noch ein Beispiel: Geburtstagsgrüße, Weihnachtsgrüße und so weiter. Ich habe zum Beispiel von einer ehemaligen Kollegin eine handgeschriebene Weihnachtskarte bekommen. Das fand ich ziemlich gut. Ich würde sagen, dass die meisten Geburtstagsgrüße aber Pflicht sind – und keine Kür.

Elke: Es kommt darauf an, wie ich jemanden erreiche. Ich habe einen Freund, der so in seinem Job drin ist – er geht nie ans Telefon. Dem schreibe ich dann; er bekommt auch eine virtuelle Geburtstagskarte. Es gibt mehr von diesen Leuten – bei denen kann ich nicht einfach anrufen.

Jessica: Was ich aber beispielsweise mache: Ich denke mir einen besonderen Text aus. Irgendetwas, was zu der Person passt. Würde ich schreiben: „Viel Gesundheit und Glück und haste nicht gesehen“, wäre das die Standardmasche. Aus meiner Sicht ist dies in unserer Gesellschaft vorherrschend – diese Heuchelei.

Elke: Für mich ist das nicht geheuchelt, eher ein wenig oberflächlich. Aber da kommt es auch darauf an, ob das jemand ist, der mir nicht so nahesteht, ich aber trotzdem möchte ich, dass er weiß, dass ich an seinen Geburtstag gedacht habe. Oder ist das jemand, der mir sehr nahe ist? Den rufe ich auf jeden Fall an.

Moritz: Ich unterstelle mal, dass wenn ich meinen engsten Freunden einen Standardtext schicke, die trotzdem wissen, dass ich an sie denke. Das wissen die einfach. Da muss ich keinen großen Text machen. Das ist auch eine Frage der Erwartung. Von meinen besten Freunden bekomme ich am Geburtstag auch nur ein „Herzlichen Glückwunsch“ zu hören. Da weiß ich trotzdem, dass das nicht böse gemeint ist und fühle mich nicht zurückgesetzt, nehme es auch nicht persönlich. Das ist einfach so. Aber du hast schon recht: Oberflächlichkeit ist schon zeitgemäß. Da war früher mehr. Früher hat man noch Postkarten aus dem Urlaub geschrieben – das passiert jetzt auch nur noch selten. Und dennoch ist Heuchelei etwas anderes. Ein Heuchler ist jemand, der etwas vorgibt.

Elke: Der lügt. Weil er etwas vorgibt, was gar nicht da ist.

Moritz: So tut, als ob.

Jessica: Für mich liegen Oberflächlichkeit und Heuchelei nah beieinander.

Elke: Nee, überhaupt nicht. Oberflächlichkeit heißt: Da geht jemand nicht in die Tiefe. Heuchelei ist eine Art der Unehrlichkeit.

Christoph: Aber das Entscheidende ist doch die Verbindung. Welche Beziehung haben da zwei Menschen zueinander? Können sie die Signale, die vom anderen kommen, wohlwollend interpretieren? Das hängt davon ab, wie man verbunden ist. Wie man sich kennt. Dass ich weiß, was meine Zeichen für dich bedeuten. Einen oberflächlichen Geburtstagsgruß würde ich dir nicht schicken, weil ich mitkriege, wie du es verstehst.

Jessica: Ich habe mal ein Beispiel für Heuchelei: Amerika. Es heißt, jeder sei dort nett, freundlich, höflich und sagt: Wir müssen uns unbedingt treffen. Und einen Augenblick später hat er dich schon vergessen. Ich kann mit so etwas ganz schlecht umgehen. Deshalb erscheint mir die Nation etwas unsympathisch, auch wenn ich noch nie da war. Und ein zweites Beispiel: Auf Bali habe ich das erlebt, dass alle so getan haben, als wenn sie mich ganz toll finden. Und ich dachte nur: Meine Güte, sind die verlogen.

Moritz: Die würden sagen, das ist Höflichkeit. Und was du über die USA sagst, ist ein Klischee. Da hatten wir das auch mal so angenommen. Wir waren zu viert da und eine Frau hatte uns zum Essen eingeladen. Wir dachten gleich: Die erzählt nur Scheiße. Am nächsten Tag stand die an der Rezeption – und wir nicht. Das ist eine der peinlichsten Sachen, die ich erlebt habe. Einfach von vornherein zu sagen: Ach, die Amerikaner … Und dann stand die dort und war tieftraurig. Sie hatte gekocht und wir waren nicht da. Insofern: Das sind Stereotype. Es gibt solche und solche.

Elke: Es gibt immer solche und solche. Ich war oft in Amerika und habe auch bei einer amerikanischen Familie gelebt und muss Jessica Recht geben: Ich habe das tatsächlich oft erlebt. Und auch meine Gastfamilie hat immer gesagt: „Gib da nichts drauf. Die werden dich alle einladen. Aber wenn du dann vor der Tür stehst, gucken sie dich doof an. Das ist nicht so gemeint.“ Für mich ist das aber keine Heuchelei, sondern Oberflächlichkeit. Das ist eine oberflächliche Freundlichkeit … Nach dem Motto: „How do you do?“ Dabei interessiert es keinen, wie es dir geht. Es ist eine Floskel, mehr nicht.

Christoph: Das ist spannend: Wenn du, Jessica, das so erzählst, sehe ich ein Bedürfnis nach tiefem, warmem Kontakt.

Jessica: Das stimmt.

Christoph: Und dann nimmst du solche Floskelspiele als Einladung zu gutem, tiefem Kontakt – das ist dann ein Missverstehen. Weil du das Floskelspiel nicht so kennst.

Jessica: Weil ich es nicht mag.

Moritz: Um auf Bali zurückzukommen: Die sind einfach nur extrem höflich.

Jessica: Ich glaube, die wollen Geld. Diese Heuchelei gibt es aber nicht nur auf Bali: Ich habe auch eine ehemalige Freundin aus der Schulzeit. Wenn ich die treffe, heißt es immer: „Wie toll, dich wiederzusehen! Wir müssen uns unbedingt mal treffen.“ Und dann hört man nie wieder was von ihr.

Elke: Auch Oberflächlichkeit.

Christoph: Das ist letztlich auch eine Floskel.

Jessica: Für mich ist das Heuchelei.

Elke: Die Grenzen liegen da aber auch ganz eng beieinander.

Christoph: Sie sagt aber, für sie sei das Heuchelei. Das würde ich gern so stehen lassen. Wenn ihre Freundin sagt: „Wie schön, dich wiederzusehen. Wir müssen uns mal treffen“, dann ist das ein leeres Versprechen. Da fehlt eine Handlung, die zu den Worten passt. So etwas kann einen kirre machen. Das in dieser Situation so hinzukriegen, dass kein Groll bleibt, ist eine Herausforderung.

Elke: Hier ist Toleranz gefordert.

Moritz: Das stimmt. Andere Kulturen und andere Menschen funktionieren anders und haben andere Codes. Und die musst du akzeptieren, wenn du dort bist

Jessica: Das finde ich schwierig. In Japan zum Beispiel könnte ich vermutlich gar nicht leben. Das mit dem Wahren des Gesichts, das geht einfach nicht.

Elke: Das könnte ich auch nicht. Das ist extrem. Aber sie sind halt so. Ich möchte ja selbst auch toleriert werden.

Moritz: Das ist ja gerade das Spannende, wenn ich woanders bin. Wenn es dort so wäre wie hier, müsste ich da nicht hin. Es geht mir in einem fremden Land ja nicht nur um die Bauwerke. Wenn in dem Land keine Leute wären, die sich auf eine gewisse Weise verhalten, wäre das Land tot.

Jessica: Aber stell dir vor, du hättest eine Freundin, die aus Japan kommt.

Moritz: Muss ich ja nicht haben. Dazu zwingt mich ja niemand.

Christoph: Aber stell dir das mal vor.

Moritz: Wenn ich das nicht hinkriege, dann habe ich halt keine Freundin von da. Und wenn ich mich in jemanden von dort verliebe, dann muss ich zusehen, dass ich damit klarkomme. Es ist aber umgekehrt genauso: Sie müsste mit mir auch zurechtkommen.

Christoph: Sie könnte ja auch total sexy sein, die Japanerin.

Elke (lacht schallend): Das kann ja nur von einem Mann kommen!

Moritz: Dann habe ich aber auch einen ziemlichen Anreiz, mich darauf einzulassen, und kann sehen, ob ich das hinkriege.

Jessica: Dann wären wir wieder bei den Themen Streit oder bei der Toleranz. Ich würde versuchen, den anderen umzupolen, ihn von meiner Wahrheit zu überzeugen. Ich finde es zum Beispiel großartig zu sagen: „Komm, wir sprechen mal unsere Gefühle aus.“ Wenn jemand das aber nicht kann, halte ich es für ein Manko. Ich versuche dann, die Person davon zu überzeugen, dass es das einzig Wahre ist.

Moritz: Das klappt dann aber vielleicht mit einem arabischen Mann nicht.

Jessica: Aber nicht nur mit einem arabischen Mann. (Lacht.)

Moritz: War ja nur ein Beispiel.

Elke: Das klappt auch bei deutschen Männern nicht.

Moritz: Dann funktioniert es eben nicht.

Elke: Die Männer, die dir das nicht sagen können, zeigen es dir aber oft auf ihre Art.

Jessica: Das finde ich schwierig. Wenn jemand mir ein Spotify-Abo zum Geburtstag schenkt, ist das dann wahre Liebe? (Lacht.)

Moritz: Nein, das ist erst einmal nur ein Geschenk, vielleicht nicht mal das dümmste. Besser als ein Gutschein.

Elke: Ich meine das nicht unbedingt in Form von etwas Materiellem. Es geht eher darum, was er vielleicht für dich macht.

Christoph: Bei dem Geschenk müsste man sich fragen: Was ist seine Schenkungsabsicht? Vielleicht hat er dich richtig gern, will dir eine Freude machen, hat sich überlegt: „Die hört gern Musik.“ Was weiß ich.

Moritz: Er könnte sich aber auch denken: „Wenn ich bei Jessica bin, würde ich gern gute Musik hören. Ich schenke ihr ein Spotify-Abo; dann kann ich auch mal was anmachen.“

Jessica: Ich finde es schwierig, mich in andere hineinzudenken. Es kann ja tatsächlich ein Zeichen von Zuneigung sein. Ich selbst würde es aber anders ausdrücken; ich würde es eher sagen.

Elke: Da hat aber jeder seine Art, es zu zeigen. Der eine kann es sagen, der andere macht etwas Schönes.

Jessica: Da können wir wieder den Bogen zur Toleranz schlagen.

Christoph: Für mich ist das spannend, dass der andere eben ganz anders ist. Die Frage ist: Wie kriegt man mit jemandem, der in allen Belangen ganz anders ist, maximales Glück hin?

Jessica: Mittlerweile glaube ich nicht, dass es möglich ist. Man sagt ja: Gleich und Gleich gesellt sich gern.

Moritz: Gegensätze ziehen sich an.

Jessica: Es ist aber mittlerweile wissenschaftlich erwiesen, dass doch eben Gleich und Gleich …

Moritz: Das ist viel einfacher, ja.

Christoph: Gleiche Bewusstseinslevel … Ich habe mal ein Buch von dem Paartherapeuten Schnarch gelesen. Der sagt: Normalerweise entwickelst du dich im Leben immer weiter: lesen, schreiben lernen, immer komplexere Gebilde, Gesellschaft, Politik. Du entwickelst deine Interessen immer weiter, wenn du neugierig bleibst. Dein Bewusstsein wird immer größer: Irgendwann hast du ein globales, dann ein kosmisches Bewusstsein. Der Horizont weitet sich immer mehr, wenn du dich entwickelst. Und wenn sich beide zusammen genügend dicht beieinander entwickeln, dann können sie ihr ganzes Leben lang eine glückliche Liebe haben. Wenn der eine sich entwickelt, der andere aber sagt: „Ich will mit dir nur ins Bett, alles andere ist mir egal“, dann fehlt da was. Nämlich das Im-Bewusstsein-miteinander-verbunden-Sein.

Elke: Da fehlt ja die ganze emotionale Seite, wenn es nur darum geht.

Christoph: Wenn zwei nur supergern miteinander vögeln und Luxus genießen und Yacht fahren und miteinander Geld verprassen, dann finden die das auch toll. Die sagen am Ende ihres Lebens, dass der andere ihre große Liebe war.

Elke: Das funktioniert, wenn beide auf gleicher Linie sind.

Christoph: Wenn du, Jessica, sagst, da muss was passen, stimme ich zu: das Bewusstsein, die Freude zu kommunizieren – auf welcher Ebene auch immer –, die muss ähnlich sein. Damit man in die Illusion vom gegenseitigen Verstehen kommt: Die Worte, die du mir schenkst, entfachen in mir ein tolles Feuerwerk, mit dem wiederum du was anfangen kannst. Wir können uns gegenseitig inspirieren. Das ist ein großes Geschenk. Ich könnte mit der schönsten, attraktivsten Frau, bei der das fehlt, nicht zusammen sein, weil mir auch Dauer etwas fehlen würde.

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Streitest du gern?
Ist Toleranz etwas Notwendiges oder bloß nettes Beiwerk?
Neigst du dazu, deine Mitmenschen in Schubladen zu stecken? In welche?

Titelbild: © iStock/khoroshkov

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