Abhandlung über den Bleistift

Keiner wollte es machen. Nicht Ralle, nicht Annette – und schon gar nicht ich.

Ich würds wohl schon versuchen, wenn alle anderen wirklich, aber auch wirklich nicht wollten. Damit der Auftraggeber nicht enttäuscht sei, die Werbeagentur in keinem schlechten Licht dastünde und so weiter. Ich war sicher, sauber aus der Nummer herausgekommen zu sein; ich hatte mein Gesicht gewahrt. Irgendein Doofer würde sich schon finden.

Keine Minute später klingelte das Telefon: „Du hast den Zuschlag erhalten, Andrea.“

Wie – ich?

„Und die anderen?“

„Haben alle abgelehnt.“

Da saß ich nun, ich arme Törin, und wurde dazu verdonnert, einen Bleistift zu betexten, seine Unique Selling Propositions dem wirklich geneigten Leser – denn wer las schon freiwillig Werbeanzeigen? – in schillernden Farben darzustellen. Die Mission war einfach: Nach dem Lesen des Textes musste das arme Opfer den dringenden Wunsch verspüren, genau diesen Bleistift käuflich zu erwerben, und zwar presto.

Dabei war es nur ein blöder Bleistift, ein banales Schreibutensil. Nur Memmen schrieben mit sowas. Menschen, die unsicher waren, wo ihr Platz sei, keine Entscheidung treffen konnten, die sich noch ein Türchen offenhalten wollten. Alles konnte noch einmal revidiert werden. Wegradiert. Eigentlich wäre der Bleistift das perfekte Statement Piece der heutigen Gesellschaft, die sich nicht festlegen konnte. Wenn er nicht so hoffnungslos „out of date“ wäre.

Doch die Zögerlichen waren nicht meine Zielgruppe: Ich hatte es auf die armen Erstklässler abgesehen, die unbeholfen ihre ersten Hieroglyphen aufs Papier setzten. Fein ziselierte Krähenfüße. Mit diesem Bleistift, so versprach ich, gelänge das noch viel besser als mit dem Vorgängermodell, das bereits ein Renner gewesen war. Ich bequatschte die armen Wichte, dass Unterrichtsstunden mit dem Bleistift gleich an Farbe gewinnen würden, ganz ohne Buntstifte.

Und schwang elaborierte Reden, um auch die Erziehungsberechtigten auf meine Seite zu ziehen: Ergonomisch war er, der Bleistift. Durch seine raffinierten Kanten. Vorbei die Zeiten, als das Schreibwerkzeug wegen seiner runden, glatten Form häufiger mal aus der Hand glitt und man schon einen Graphologen brauchte, um das Gekrakel zu interpretieren. Nun konnte der tapfere Zögling schreiben, was das Zeug hielt, ohne eine Spur von Ermüdung. Denn der Bleistift verfügte zu allen bisher aufgezählten Vorteilen über speziell präparierte Griffflächen.

Was war nochmal das Synonym für Griffflächen? Ich brauchte nämlich eins, denn die Lobenshymne auf den Bleistift musste ich nicht nur im Katalog halten, sondern auch noch auf der Website und beim Onlinehändler. Mit griffigen Slogans. Irgendwas mit Goethe käme sicherlich gut. Das würde den letzten Skeptiker überzeugen. Und falls der Dichter nicht half, hatte ich noch ein As im Ärmel: die liebe Nachhaltigkeit. Ohne die hatte ein Produkt auf dem heutigen Markt keine Chance, wäre schon vor der Einführung gescheitert. Natürlich war so ein Bleistift nachhaltig. Meiner hielt über Jahre – ich nutzte ihn nämlich nie. Ich hatte mich im Griff, war in der Lage, Entscheidungen zu treffen. Ich schrieb mit einem Kuli.

Und dennoch machte es unglaublich viel Spaß, mit genau diesem Bleistift zu schreiben. Unbeschreiblichen Spaß. Das war der Knackpunkt. Dieser Spaß ließ sich beim dritten Medium einfach nicht mehr vermitteln; mir waren die Metaphern ausgegangen.

Ich packte meinen veganen Bleistift, rollte ihn über die Tischfläche, kaute darauf herum – in der Hoffnung, einen Hauch von Inspiration zu verspüren. Ohne Gefahr laufen zu wollen, mich in Wiederholungen zu verlieren, musste ich schwere Geschütze auffahren. Ich schrieb was von Abenteuern des Schreibens. Welche Mutter würde ihrem Kind ein Abenteuer verwehren? Und erst recht eins für 1,99? Meine Botschaften wurden immer abenteuerlicher, ich tauchte in fremde Welten ein und vergaß dabei fast selbst: War doch nur ein stinknormaler Bleistift. Was für Memmen eben.

Titelfoto: © iStock/Avosb

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