Auswandern? Vielleicht. Nach Ungarn? Kaum vorstellbar. Heiko hat es dennoch gemacht und lebt nun schon seit zehn Jahren in Budapest. Ich habe ihn, seine ungarische Frau und seine beiden Kinder dort besucht.
Wie begann deine Geschichte mit Ungarn?
2005 kristallisierte sich heraus, dass mein Arbeitgeber aus dem Energie- und Gassektor unsere Arbeitsplätze nach Ungarn in ein neu gegründetes Business Support Center verlegen würde. Mein Job aus dem IT-Bereich stand auf der Liste. Glücklicherweise fragte mich mein damaliger Chef, ob ich Interesse daran hätte, für neun Monate in das Land zu gehen und den neuen Mitarbeitern zu erklären, wie mein Job funktioniert. Da sich ein beruflicher Auslandsaufenthalt in einer Bewerbung ganz gut liest, habe ich das nach einigem Hin- und Herüberlegen gewagt. Aus den neun Monaten wurden zunächst einmal vier Jahre.
Am Anfang warst du aber nicht hellauf begeistert, oder?
Ich habe die Stelle mit gemischten Gefühlen angetreten. Damals war mir klar, dass ich die Firma nach neun Monaten vermutlich verlassen muss. Als ich nach vier Jahren wieder zurückkam, hatte man in Hamburg tatsächlich keinen Job mehr für mich und bot mir eine Stelle in Hannover an. Dort hat mir allerdings die Arbeitsmentalität nicht gefallen. Es herrschte eine Kleinstadtmentalität, die Kollegen waren teilweise arrogant. Das war keine Unternehmenskultur, mit der ich auf lange Sicht glücklich geworden wäre.
Was ist dann passiert?
Ich stand vor einer Entscheidung: Entweder würde meine damalige ungarische Freundin nach Deutschland ziehen und müsste sich einen neuen Job suchen. Oder ich ginge zurück nach Ungarn. Das habe ich auch gemacht. Weil ich in den vier Jahren dort eine ganz andere Arbeitsmentalität kennengelernt habe als in den 16 Jahren vorher in Deutschland. Mir hat auch das Zwischenmenschliche sehr gefallen.
Inwiefern ist die Arbeitsmentalität anders?
Hier herrscht noch Aufbruchstimmung. Die Prozesse sind weniger starr, es gibt eine größere Flexibilität in der Art zu denken, die Hierarchien sind flacher. Dies alles gepaart mit einer jungen, dynamischen Mitarbeiterpopulation. In der IT-Abteilung in Hamburg war ich damals einer der Jüngsten, in Budapest einer der Älteren.
Auch die Mentalität der Ungarn hat mich sehr beeindruckt. Der Lebensstandard war wesentlich niedriger als in Deutschland – das ist auch heute noch so –, aber die Leute sind mit weniger zufrieden. Wenn sich in Deutschland jemand über die Preise im Supermarkt beschwert oder die medizinische Versorgung, über die Steuern, die Infrastruktur, kann ich das nicht nachvollziehen. Oder über den öffentlichen Nahverkehr, der ja so grottenschlecht ist.
Ist er ja auch! (Lacht.)
Bist du in Budapest mal Bus und Bahn gefahren? Wenn sich hier jemand über einen alten, klapprigen Bus beschwert, dann ist das wirklich ein alter, klappriger Bus.
Ein anderes Beispiel aus dem privaten Bereich: Wenn man hier zu einer Party eingeladen ist, bewertet man den Gastgeber nicht danach, was er aufgetischt hat, sondern hat zusammen eine gute Zeit. Jeder bringt ein bisschen was mit, schmeißt es auf den Tisch, alles wird geteilt. Am Ende des Abends war es eine tolle Party. Damit habe ich in Deutschland andere Erfahrungen gemacht.
Du warst also so begeistert, dass du wieder nach Budapest zurückgegangen bist?
Ja, ich hatte die Entscheidung gefasst zurückzugehen, weil ich mir nicht vorstellen konnte, weitere zwanzig Jahre in Deutschland zu arbeiten und mir jeden Tag beim Mittagessen das Gejammer darüber anzuhören, wie schlecht alles sei. Und weil ich in Ungarn viel besser soziale Kontakte knüpfen konnte, sowohl innerhalb der Firma als auch außerhalb.
Hattest du bei deiner ersten Ankunft einen Kulturschock?
2006 war das ein ganz schöner Schock, ja. Wobei ich das schon aus Ostberlin kannte. Als ich kurz nach der Wende dorthin gefahren bin, waren die Häuser noch in einem Zustand wie nach dem Zweiten Weltkrieg – mit Einschusslöchern an der Fassade. Gleichzeitig waren das ganz normale Gebäude, in denen Menschen wohnten. Ähnlich verhielt es sich in Budapest abseits der typischen Touristenpfade. Meine Arbeitskollegen waren sehr aufgeschlossen, haben mich in ihren Freundeskreis aufgenommen und mich in Innenstadtbereiche mitgenommen, die man als Tourist nicht sieht. Das war erschreckend. Es hingen Handtücher und Wolldecken statt Gardinen am Fenster. Die Fitnesscenter befanden sich teilweise im Keller – ich selbst wäre nie auf die Idee gekommen, ein Fitnessstudio aufzusuchen, das im Keller liegt. Auch die Bars waren teilweise im Untergeschoss. Mittlerweile gehören Kellerbars zur Szene.
Wenn du dir den Stadtteil Sankt Georg in Hamburg anschaust oder die Hafenstraße, wie sie vor dreißig Jahren aussahen – diese Zustände habe ich in Budapest wiedergefunden.
Geht es dir in Ungarn besser als in Deutschland?
Ja! Sehr wahrscheinlich wäre es mir in Deutschland auch gut gegangen; ich hätte sicher einen gutbezahlten Job gefunden. Von der Lebensqualität her geht es mir hier zumindest genauso gut wie in Deutschland, wobei mein Alltag hier weniger abgehoben ist als in der Heimat: Ich verschwende weniger Geld, gebe es bewusster aus, packe ein bisschen was zur Seite, führe aber trotzdem ein vernünftiges Leben.
Man muss nicht alle zwei Jahre einen neuen Laptop kaufen, nicht in jedem Raum einen Fernseher haben oder zwei Autos vor der Tür. Ich benutze hier wesentlich häufiger die öffentlichen Verkehrsmittel.
Trotz ihrer Unzuverlässigkeit?
Sie sind nicht unzuverlässig, werden aber behelfsweise von Klebeband und ein paar Extraschrauben zusammengehalten.
Und du meckerst im Anschluss nicht?
Nein, da beißt man sich durch.
Insgesamt gibt es in Ungarn aber sicherlich auch Verbesserungspotenzial, oder? Mal abgesehen vom öffentlichen Nahverkehr.
Ich vermisse hier vor allem das Umweltbewusstsein. Wir in Deutschland machen Recycling vor und zurück; das haben die Ungarn noch nicht so drauf. Hier wird noch viel in die Natur geschmissen – mit der Begründung: „Das sehe ich ja nicht jeden Tag, deshalb interessiert es mich nicht.“ Die Parks sind bei Weitem nicht so gepflegt wie bei uns, einfach weil die Leute ihren Müll überallhin schmeißen.
Flaschenpfand sollte hier mal eingeführt werden, doch ist das in die Hose gegangen, weil sich niemand darum gekümmert hat. Es wurde wieder abgeschafft.
Meine Familie hat aber drei Mülltonnen vor der Tür.
Wo landet euer getrennter Müll?
Ja, richtig. (Guckt ratlos.)
Einen Versuch war es wert …
Hast du schon mal so richtig keinen Bock gehabt und wolltest zurück?
Nein. Der Moment ist noch nicht gekommen. Eher die Bestätigung, dass die Entscheidung richtig war. Das hat auch mit der Politik zu tun: Über die ungarische Politik kann man sagen, was man will, ich denke aber, die deutsche ist auch nicht viel besser.
Abgesehen davon herrscht hier nicht so eine Wegwerfmentalität. Es gibt noch viele kleine Supermärkte, Tante-Emma-Läden, da wird vieles noch nach dem Ablaufdatum angeboten. Die Sachen werden gekennzeichnet und die Leute kaufen sie. Wenn man durch die Obst-und-Gemüse-Abteilung geht und da ist mal ein Apfel dabei, der nicht so schön aussieht, dann wird der trotzdem genommen. Die Preise sind entsprechend, also nicht so hoch wie in Deutschland – weil hier nicht so viel weggeschmissen oder aussortiert wird. Das finde ich toll.
Am Anfang gab es schon die eine oder andere Begebenheit, die mich schockiert hat. Auf der Straße wurde ich zwei, drei Mal als Nazi beschimpft, weil ich kein Ungarisch sprach und die Leute feststellten, dass ich Deutscher bin. Das ist jetzt aber sehr lange nicht mehr vorgekommen.
Wie sind die ungarischen Frauen?
Nett! Ich bin ja mit einer verheiratet. Nicht so anspruchsvoll wie die Deutschen.
Sie müssen nicht unbedingt ins teuerste Restaurant ausgeführt werden …
Genau. Sie sind auch natürlicher, aufgeschlossener, weniger durch die Gesellschaft verdorben.
Ich habe in Deutschland die Erfahrung gemacht, dass gerade Frauen misstrauisch sind. Und auch hinterfotzig. Wenn ich an unsere Abteilung für Rechnungswesen in Hamburg zurückdenke: Da fand unter den Frauen regelmäßig ein Konkurrenzkampf und auch Mobbing statt. Das habe ich hier so nicht erlebt.
Und wie sind die Männer?
Genauso aufgeschlossen wie die Frauen; man kommt mit ihnen trotz der Sprachbarriere relativ leicht in Kontakt. Selbst wenn man aufs Land fährt, wo überwiegend Ungarisch gesprochen wird, kommt man mit ein paar Brocken Ungarisch ins Gespräch. Die Ungarn sind insgesamt nicht so reserviert wie die Deutschen.
Apropos Ungarisch – sprichst du die Sprache?
Auf einer Skala von 1 bis 10 gebe ich mir eine 3.
Das ist nicht viel. (Lacht.)
Ich komme zurecht.
Warum ist es nach zehn Jahren nur eine 3?
Die Firmensprache ist Englisch, das heißt, dass ich acht bis zehn Stunden am Tag englisch spreche. Auch zu Hause rede ich mit meiner Frau englisch und mit meinen Kindern deutsch. Unterwegs spreche ich eine Mischung aus Deutsch, Englisch und Ungarisch. Aber gerade in der Stadt komme ich mit Deutsch und Englisch überall zurecht.
Klassisches Beispiel: Letzte Woche war ich hier auf einem Wochenmarkt und habe ein bisschen Fleisch und Käse gekauft. Das mit den Zahlen klappt im Ungarischen, die Käsesorten konnte ich auch bestimmen. Als es ans Bezahlen ging, hat mir die Verkäuferin eine Frage gestellt, ich antwortete mit einem Gemisch aus Deutsch, Englisch und Ungarisch. Da ist sie zu Deutsch geswitcht und hat mich auf Deutsch weiterbedient. Auch in dieser Situation brauchte ich nicht so viel Ungarisch.
Du hattest aber auch Ungarischunterricht.
Ja, ich hatte mich zwei Jahre lang richtig reingekniet und wirklich versucht, die Sprache mit ihrer Struktur zu lernen. Das waren zweimal die Woche 90 Minuten. Davon ist sehr wenig hängen geblieben. Es dauert bei mir noch zu lange, nach Wörtern zu suchen; deswegen habe ich nach zwei Jahren aufgehört. Hinzu kommt, dass mein Job sehr anspruchsvoll war. Es wurden manchmal schon zehn bis zwölf Stunden täglich. Da mochte ich abends auch gar nicht mehr reden.
Und was ist mit den Behörden?
Die Behördengänge erledigt meine Frau.
Was an der Sprache hat dich besonders verzweifeln lassen?
Die Ausnahme von der Regel. Die ungarische Sprache basiert sehr auf Betonung. Und auf Endungen. Da denkt man, man hat endlich einen Eingangspunkt gefunden, und dann geht es los mit den Ausnahmen. Vieles lässt sich nicht mit Logik erklären.
Wenn ich mir den Google Translator zur Hilfe nehme und mir dort ein paar Wörter heraussuche, kriege ich es auch hin, einen Satz zu bauen; das klappt schon. Aber mir fehlt der Wortschatz.
Gibt es denn auch sprachliche Phänomene, die du besonders witzig findest?
„Holzlöffel“ heißt im Ungarischen zum Beispiel „Fakanál“. (Lacht.) Dabei ist „fa“ der Baum und „kanál“ ist der Löffel.
„Egészségedre“ und „Egész seggedre“ klingen ähnlich, wobei das Erste „Zum Wohl!“, das zweite aber „Auf deinen prallen Hintern!“ heißt. Da kommt es eben auf die Betonung an.
„Sziasztok“ ist die Begrüßung für mehrere Leute, „Szia“ für eine Person. Als Mann kann man einer Frau ein Kompliment machen, wenn man „Sziasztok“ sagt. Jetzt kannst du mal überlegen, worauf das bezogen sein könnte – wenn man eine Frau in der Mehrzahl anspricht.
Ein bisschen anzüglich ist es dann, nicht wahr? Aber warum ist das dann ein Kompliment? Weil sie einen schönen Busen hat?
Richtig erkannt. (Lacht.)
Mal eine andere Frage: Vermisst du in Ungarn etwas, das es in Deutschland gibt?
Wie gesagt generell das Umweltbewusstsein. Ansonsten die Nähe zur Küste, die fehlt mir tatsächlich. Ich bin kein Bergtyp, fühle mich an der Nord- und Ostsee zu Hause, kann dort gut abschalten. Ich vermisse es, dass ich mich nicht einfach ins Auto setzen kann und dann in ein, zwei Stunden am Strand bin.
Der Balaton ist kein Ersatz?
Nein, es ist ja ein See! Zwar ein großer, aber immer noch ein See.
Hat sich deine Sicht auf die Welt verändert, seit du in Budapest wohnst?
Ja, ich bin jetzt mit weniger zufrieden, bin gegenüber anderen Menschen offener und das Konkurrenzdenken interessiert mich nicht mehr so stark.
Wenn du in einem Land lebst, wo man die Unterschiede zwischen Arm und Reich stärker wahrnimmt, verändert das deine Sicht auf einige Dinge.
Ist es wirklich so, dass Menschen, die weniger besitzen, trotz allem glücklicher sind? Oder ist das ein Mythos?
Nein, die sind tatsächlich glücklicher. Bestes Beispiel: Auf den Hamburger Wochenmärkten hast du Anhänger, aus dem unzählige Sachen verkauft werden. Der ursprüngliche Sinn eines Wochenmarkts war aber, eigene Produkte anzubieten. Dieser Gedanke ist in Deutschland komplett verloren gegangen. Hier bieten die Leute auf dem Wochenmarkt nach wie vor Sachen an, die sie tatsächlich produzieren: Obst, Gemüse, Honig, was auch immer. Das verkaufen sie, um sich damit ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Und auch wenn das nicht viel ist, reicht es ihnen. Das, was man in Deutschland als Armutsgrenze bezeichnet, ist hier ein Lebensstandard, mit dem die Leute zufrieden sind. Sie sagen: „Ich habe alles, was ich brauche.“
Ich war mal Ende April an einem Kiosk am Velence-See. Es waren an dem Tag 30 Grad. Um 19 Uhr war noch eine Riesenschlange am Kiosk – alle wollten ein Getränk kaufen und den Abend am See verbringen. Der Besitzer hat den Kiosk trotzdem um 19 Uhr zugemacht. Ich fragte ihn, warum; er hätte doch noch ganz viel Geschäft machen können. Er darauf: „Ich habe mein Geschäft für heute gemacht und setze mich jetzt lieber mit euch an den See.“ Dann hat er uns ein Bier ausgegeben, sich an den See gesetzt und mit uns den Abend genossen. Das war für mich eines von vielen Schlüsselerlebnissen, bei denen mir klar wurde: Ja, man kann auch mit weniger zufrieden sein. Geld ist nicht alles.
Jetzt fehlt nur noch die letzte Frage: Wann ziehst du wieder zurück nach Deutschland?
Gar nicht? Wenn alles klappt, möchte ich meinen Ruhestand hier verbringen.
Das ist doch eine schöne Perspektive. Ich drücke die Daumen und bedanke mich für das Gespräch, Heiko!
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