Sinnsuche

Ich fahre mit 120 Sachen über die Autobahn. Rückwärts. Aus den Boxen dringt unheilvolle Musik. Dann eine bombastische Explosion. Ein Soundtrack wie zum Atomunfall von Tschernobyl, der Soundtrack von „Tenet“ eben.

Ich weiß noch, wie ich als 16-Jährige stolz und mit geschwellter Brust das Ufa-Kino am Gänsemarkt verlassen hatte. Ich war machtvoll, unbesiegbar. Wie Arnie. Ich hatte gerade „Terminator II“ gesehen. Mann, war das ein Gefühl!

Metallische Klänge erfüllen das Wageninnere, eine bedrohliche Stimmung breitet sich aus. Ich bin nicht mehr im massiven SUV, fahre zum Glück auch wieder vorwärts. Gerade noch rechtzeitig ausgewichen, als der Pkw vor mir plötzlich bremst. Ich bin jetzt Teil des Gefahrgut-Konvois, werde gleich zusammen mit dem gelben Smart, der seit geraumer Zeit auf der Mittelspur klebt, den überholenden LKW gekonnt in die Zange nehmen: einer von hinten, einer von vorn.

Gerade gestern hatten wir uns „Tenet“ auf DVD angeschaut.

„Musst du unbedingt sehen! Ist genial“, hatte ich zu meinem Freund gesagt.

Er nickte, vertraute auf mein Urteil. Mit Schokoküchlein plus Eis auf dem Teller saßen wir auf der Couch, ich hatte das Licht etwas gedimmt. Er schob den Übertragungsbildschirm vom Laptop auf den großen Fernseher.

„Die Sprache musst du vorher noch einstellen!“ Wieder ich.

Dann ging es los. Angespannt saß ich auf der Couch, traute mich kaum, meinen Löffel zum Mund zu bewegen, wollte nichts verpassen, während die Opernmusiker aus der Eröffnungsszene sich einstimmten. Sie ahnten noch nichts. Denn gleich würde es fürchterlich losgehen, ich wartete auf den Einschlag. Wumms! Nein, doch nicht. Es kam ein Wümmschen. Zu leise!!! Egal, nicht wichtig jetzt. Lieber die Action verfolgen, die sich vor unseren Augen abspielte. Ohne meinen Blick vom Bildschirm zu lösen, versenkte ich den Löffel im Küchlein, das Schokoinnere floss heraus. Jetzt musste ich doch hinschauen. Sofort wieder zurück zum Bildschirm. Puh, nichts verpasst. Ich schob mir den Nachtisch in den Mund. Plötzlich stoppte der Film. Fassungslos starrte ich meinen Freund an.

„Du kannst doch nicht einfach –“

„Ich hab zu wenig Eis auf dem Teller.“ Sorglos zuckte er mit den Schultern.

Ich verstand die Argumentation nicht. „Du kannst doch nicht einfach so den Film anhalten!“

Er giftete zurück: „Ja was, soll ich warten, bis der Film vorbei ist, damit ich mir noch Eis holen kann?!“

Ich vergrub meinen Löffel demonstrativ im Küchlein, wollte den Arsch nicht anschauen. Und außerdem war es hier viel zu hell, so konnte keine Kinostimmung aufkommen!

Es ging wieder los; der Freund fummelte an den Einstellungen vom Laptop. War jetzt eh egal. Als endlich alles geklärt war, konnten wir weitergucken. Ich versuchte, an meine Anspannung von vor fünf Minuten anzuknüpfen, da wurde auf dem Bildschirm zum ersten Mal gesprochen. Die Terroristen nuschelten irgendetwas.

„Zu leise!“

Aber immerhin bekamen wir mit, dass sie auf Englisch nuschelten. Da musste natürlich nachjustiert werden. Boah, war jetzt eh wurscht. Irgendwann schaffte ich es tatsächlich, in den Film reinzukommen, verkniff mir den dringend nötigen Gang zu Toilette – und hatte am Ende einen zweiten Lieblingsfilm, neben „Terminator“. Der Freund war mäßig begeistert.

Er ist jetzt keine leichte Kost, so ein Film wie „Tenet“. Zum ersten Mal gesehen hatte ich ihn sechs Monate zuvor mit einem Kumpel Patrick im Kino. Von der ersten Minute an, in der bereits der Lauf der Dinge mit einem elektronischen Paukenschlag unterbrochen wurde, war ich gefesselt. Die Musik schlug ein wie eine Bombe, ab da überschlugen sich die Ereignisse. Unerwartet tauchte jemand auf, jemand anders verschwand auf geheimnisvolle Weise. Mit zitternden Händen griff ich in die volle Popcorntüte; das Geschehen ließ mich nicht mehr los. Im Kino war es stockdüster, so wie es sich gehörte. Die Musik war ohrenbetäubend gut. Nach der Einstiegsszene in Kiew war der Protagonist in Dänemark, anschließend in Indien, musste da kurz was klären. Sprach mit Michael Caine über Wichtiges. Ich verstand nur Bahnhof. Jetzt nicht vom aktuellen Dialog, sondern so ganz allgemein. Obwohl man deutsch sprach. Seltsam, war jetzt nicht das erste Mal. Ich muss zugeben, dass ich beim allerersten „Paten“ auch nicht alles mitgekriegt hatte, aber das war schon sehr, sehr lange her. „Inception“ hatte ich auch nicht wirklich geschnallt. Was aber daran lag, dass ich es im Original geguckt hatte. Dachte ich zumindest. Nun, beim dritten Mal, kam ich ins Grübeln. Vielleicht war ich einfach langsam im Kopf … Vielleicht war es das Alter … Ich hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn wieder geschah etwas Unerwartetes. Dann endlich eine ruhige Szene; dem Zuschauer wurde eine Verschnaufpause gegönnt. Patrick flüsterte von der Seite: „Ich schnall hier nix.“

„Wirklich?!“ Ich freute mich riesig. „Ich auch nicht“, flüsterte ich konspirativ zurück. Schon war das Gespräch beendet; die Aktion lief wieder an.

Ich kann jetzt nicht sagen, dass ich am Ende des Films gar nichts verstanden hätte; das stimmte nun auch wieder nicht. Einige Passagen hatten sich mir trotz allem erschlossen. Der Rest lag in einem ahnungsvollen Nebel. Mir aber machte das nichts aus. 150 Minuten lang war ich in einer Parallelwelt voller Spannung gewesen und blieb sogar sitzen, als das Abspann lief, weil die Musik so deep war.

„Vielleicht sind wir einfach beschränkt“, mutmaßte Patrick, als wir wieder an der frischen Luft waren.

„Keine Ahnung.“ War jetzt auch egal.

Zum Glück gab es auf YouTube einen 16-minütigen „Tenet“-Erklärfilm, den ich mir noch am selben Abend reinzog. Ich verstand wenig von dem, was erklärt wurde. Auch andere Menschen waren verwirrt, ergab eine kurze Recherche im Netz. Irgendwo hieß es sogar, dass der Regisseur das Nichtverstehen einkalkuliert, es als Stilmittel eingesetzt hätte. Er legte es quasi darauf an, den Zuschauer zu frustrieren.

„Aber wenn wir den schon nicht verstehen“, sagte ich zu Patrick. „Was ist dann mit Leuten, die sich den einfach als Ballerfilm reinziehen wollen und generell ein niedriges Niveau haben?“

„Die sind es gewohnt, dass sie nichts verstehen“, gab Patrick zurück.

Stimmte auch wieder.


Die Sinnsuche beschäftigt viele, auch Künstliche Intelligenzen. Hier erfährst du mehr dazu: Im früheren Leben ein Taschenrechner: KI erlangt Bewusstsein

Titelfoto: © iStock/yykkaa

1 Kommentar zu „Sinnsuche“

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