Chronik eines verspäteten Ravebesuchs.
Zugegeben, 47 ist ein recht fortgeschrittenes Alter, um zum ersten Mal an einem Rave teilzunehmen. Erst recht, wenn man in seinem Leben so gut wie keine Drogenerfahrungen machen konnte. Dabei habe ich mir wirklich Mühe gegeben, damals mit 17, als meine beste Freundin sich sogar heimlich eine Küchenwaage kaufte, um das Gras abzuwiegen. Ich konnte trotzdem nicht fliegen.
Aufgeben war keine Option und so ließ ich mir von einer Mitbewohnerin das Zeug in den Joghurt rühren. Endlich verspürte ich eine Wirkung! Es fühlte sich ungefähr so an, als wenn ich von einem Stück Seife abgebissen hätte.
Aus dem Zähneputzen kam ich an dem Abend nicht mehr heraus.
Ich versuchte es noch zweimal unter fachkundiger Anleitung, fror mitten im Sommer, übergab mich auf die Tanzfläche unser Stammdisco. Fliegen konnte ich nach wie vor nicht.
Damit hatte ich quasi kein Anrecht darauf, Technomusik gut zu finden. Dazu noch Boris! Böse sei seine Musik, hieß es gemeinhin. Da wäre mindestens Ecstasy angebracht.
Viel zu spät bekam ich mit, dass mein Gott, DJ Boris, in die Stadt kam. Beim Kleinanzeigenportal wurden die Tickets mittlerweile für das Zwei- bis Dreifache gehandelt. Mit schlappen 100 Euro machte ich ein Schnäppchen.
Natürlich hatte die Sache einen Haken: Es war ein Onlineticket, das der Kleine – dass er jung war, entnahm ich seinem Schreibstil – sicherlich schon an fünf andere vertickt hatte. Ich freute mich trotzdem, nur für den Fall, dass es doch nicht so war.
Der Tag nahte heran, das Line-up wurde verkündet. Ein, zwei Vorbands und dann sollte der Meister auftreten. Sein Auftritt war für 2 Uhr angekündigt.
Bidde???
Um zwei lag man in meiner Jugend sturzbesoffen unter dem Tisch. Und wenn nicht, dann war man zumindest auf dem Nachhauseweg. Um 2 Uhr war ich nicht mehr aufnahmefähig, auch ohne Alkohol. Um 2 Uhr trat ich bereits in die REM-Phase ein und nicht die der höchsten Ekstase. Wie hatten die sich das gedacht? Dass ich um acht ins Bett gehe, mir den Wecker auf Mitternacht stelle, damit ich bis 4 Uhr morgens durchalte?
Ich stellte mein Ticket in der Fangruppe zum Verkauf ein, vereinbarte eine Übergabe im Supermarkt meines Vertrauens. 50 Euro. Ich war ja fair. Oder anders: Zwei Tage vor dem Rave hatte ich nicht wirklich eine Wahl.
Der Typ nahm mein ausgedrucktes Onlineticket entgegen und ich wartete auf den Anruf um 2 Uhr in der Nacht, weil er nicht reinkam …
… konnte aber doch in meine REM-Phase eintreten, denn das Telefon blieb stumm.
Ich chille am Balatonsee, stöbere in den sozialen Netzwerken. Jemand verkauft eine Karte. Für Boris. Was?! Ich setze mich auf.
Die Recherche beginnt. Fünf Minuten später bin ich stolze Besitzerin eines VIP-Tickets für einen Open-Air-Rave. Dass ich zu einer sehr wichtigen Person avanciert bin, trifft sich gut, denn die Schlange beim Einlass ist endlos. Aber noch bin ich am Balatonsee und habe gerade bewusst eine Doppelbuchung vorgenommen. An dem Tag wollte ich nämlich wandern. Mit einer Freundin, die ich einmal im Jahr sehe. Doch was zählt schon eine langjährige Freundschaft, wenn Boris in die Stadt kommt! Und das zu einer seniorenfreundlichen Zeit. Der Rave beginnt um 17 Uhr.
17.30 Uhr
Ich fahre auf das Hafengelände in Richtung Parkplatz, der mich 16 Euro gekostet hat – man lebt nur einmal. Nicht zu früh, um als Streber zu gelten, aber auch keine Minute zu spät. Die Leute, an denen ich so langsam vorbeirolle, haben grün gefärbte Haare, lustige Zöpfchen, klobige Stiefel zum Minirock, nackte Oberkörper. Und sicherlich könnte ich am Kinn der Männer keinen Flaum erkennen – sofern ich ohne Brille so weit sehen könnte.
Kurzum: Alle sind jung, sehr jung. Mir wird bange. Da entdecke ich im Auto hinter mir ein paar leibhaftige Antiquitäten, die ebenfalls auf den Parkplatz zusteuern. Mit Genugtuung stelle ich fest, dass sie noch älter sind als ich.
Auf dem Gelände tanzt sich eine Ü60-Dame in einem khakifarbenen Trenchcoat ein. Ich bin erleichtert.
Ein harter Bass erfüllt das Gelände. Mein rechtes Bein fängt an zu zucken, doch ich habe noch ein paar Aufgaben abzuarbeiten, bevor ich mich der Tanzlust hingebe, gehe die Essensstände ab und entscheide mich für einen Döner, werde laut, als die Blonde neben mir ihren zuerst bekommt, sage was von Altersdiskriminierung. Es stellt sich heraus, dass ihrer vegetarisch ist und damit früher fertig. Ich entferne mich dezent.
Stelle mich an für eine Cola – dem Alkohol habe ich Jahre vorher abgeschworen. Mein Motto war und ist: Nur trinken, wenn es sich lohnt.
Mein letzter Alkoholgenuss ist fünf Jahre her. Durch ein Versehen wurde ich von einer stark alkoholisierten Arbeitskollegin zu einer privaten Silvesterfeier in einem Waschsalon eingeladen. Hinten im Raum die Wäschetrommeln, vorn der Tresen mit den Drinks, mit denen sich die Wäscherinnen und Wäscher ihre Zeit vertreiben konnten. Ich stopfe meine Jacke in eine der Trommel, fange an mit einem Gin Tonic, weitere folgen. Es wird ein guter Abend: Ich tanze zu einer Musik, die mir nichts sagt, rede mit Arbeitskollegen, von denen ich später nicht einmal weiß, dass sie zugegen waren, übergebe mich ins Waschbecken und werde nach Hause getragen.
Am nächsten Tag durchsuche ich das Netz nach Informationen dazu, wie viele Menschen am Neujahrstag sterben, bin um 20 Uhr endlich so weit, mir Hose und Jacke über meinen Pyjama zu ziehen und mein Auto aus dem Halteverbot am Waschsalon zu holen – am nächsten Tag ist hier Markt. Törichterweise hatte ich angenommen, dass ich an dem Abend nichts trinken würde.
Mir geht’s wieder einigermaßen, habe bloß Muskelkater der seitlichen Bauchmuskeln. Wovon bloß?
Nach dieser rundum gelungenen Silvesterfeier – ich hatte schon lange nicht so viel Spaß –, beschließe ich, dass es das gewesen sein soll, erst recht als mir klar wird, dass ich den Muskelkater dem nächtlichen Hängen über der Kloschüssel zu verdanken habe.
18.00 Uhr
Cola also. Ich brauche das Koffein, um den Tanzabend zu überstehen. Jetzt nur noch den Becher abgeben.
18.20 Uhr
Ich lasse den Becher auf Klo stehen, trotz der 2 Euro Pfand, vollbringe eine gute Tat. Weil nun jemand anders sich in eine Schlange stellen kann, die sich nicht merklich bewegt. Ich aber spare Lebenszeit und begebe mich in die VIP-Ecke.
Hier tummeln sich Menschen, die näher am Haltbarkeitsdatum sind als der durchschnittliche Ravebesucher. Hier ist man unter sich. Und kommt sogar bis zur Bühne. Das Problem dabei: nur an den äußersten Rand. Die breite Front ist vom Pöbel besetzt.
Ich verstehe nicht ganz, was hier gespielt wird. Wozu der VIP-Bereich, wenn man hier schlechter sieht als vorne? Ich kann doch jetzt nicht …
18.30 Uhr
… ich mache es einfach. Gehe eine große Runde, tauche ein ins Fußvolk, den Arm mit dem neongelben Bändchen verschämt nach unten haltend. Geschickt pirsche ich mich immer weiter nach vorn – will nicht zu frech sein und bleibe in der gefühlten dritten Reihe stehen. Hier geht es ab, die Gruppendynamik übernimmt. Die Menge wippt melodisch. Es ist nicht unbedingt laut, doch das Wummern des Basses übertönt alles. Die Melodie lässt sich nur erahnen.
19 Uhr
Ein Blonder übernimmt das DJ-Pult und heizt den Feierwütigen ein. Zumindest habe ich das Gefühl, dass er es tut. Die Leute wippen heftiger, vereinzelt ein Jubelschrei, doch was genau er spielt, erkenne ich nicht. Bewege mich mit den anderen mit.
19.10 Uhr
Ich habe Durst, verlasse das Geschehen und stelle mich an einer der Buden an. Ein Wasser wäre jetzt gut.
19.30 Uhr
Wieder in der Menge, etwas weiter hinten, wo der Sound besser ist. Der Durst kann warten – bei der Schlange … Will tanzen, doch inzwischen ist es so voll, dass ich nur von einem Bein aufs andere treten kann.
19.40 Uhr
Hinsetzen wäre jetzt gut.
Der Typ vor mir wandert beim „Tanzen“ Millimeter um Millimeter nach hinten; bald wird er mit mir zusammenstoßen.
Nur noch zwanzig Minuten warten bis zum großen Auftritt und der einen perfekten Videoaufnahme, damit mir alle Facebook-Freunde glauben, dass ich da war.
19.50 Uhr
Ich stehe wieder an. Diesmal wird es was.
20 Uhr
Es jubelt. Ich verlasse den Getränkestand unverrichteter Dinge, begebe mich nach vorn, mache die obligatorische Aufnahme vom Musikguru. Beschließe zu tanzen, auch wenn der Klangsalat nicht dazu einlädt. Hab ja keine Wahl, denn mit Trinken und Sitzen ist Asche.
20.10 Uhr
Immer noch habe ich Durst – und mittlerweile auch Rückenschmerzen vom Stehen. Bin hinten. Hier könnte man tanzen, hier ist Platz. Auch der Sound ist ganz okay. Bloß ist hier nichts los. Die Leute quatschen, einige Aufpasser schlendern herum.
Ich habe keine Lust und gehe. Ich gehe wirklich und wahrhaftig, verlasse das Gelände. Will nach Hause, will sitzen und trinken.
20.15 Uhr
Auf dem Deich stehen einige blinde Passagiere: Feiernde, die sich ihr Bier selbst mitgebracht haben. Die Soundqualität ist ganz gut. Ich könnte mich dazustellen. Ist aber auch Quatsch, so mit meinem VIP-Band.
20.30 Uhr
Es kann doch nicht sein, dass der Technogott in die Stadt kommt, und ich mache schlapp. Das geht doch nicht.
Kurz vor meinem Wagen kehre ich um, wild entschlossen, mir mein Getränk doch noch zu holen und bis 22 Uhr durchzuhalten.
20.40 Uhr
Die Security begrüßt mich beim Wiedereintritt in die Partyatmosphäre unsicher grinsend. Die Traube am Tresen rührt sich nicht. Dann also doch tanzen.
20.50 Uhr
Kapitulation.
Vielleicht wären Drogen doch die Lösung gewesen. Warum das aber eher unwahrscheinlich ist, liest du im Interview Vielleicht hätte ich bis heute keinen Geschlechtsverkehr gehabt.
Falls dich aber eher das Motiv des Seifeessens interessiert, taucht es ganz konkret in dieser Story auf: Der Hund, der die Tür fraß.
Zum Wohl!
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