Warum ich denn dachte, ich hätte Syphilis, wollte die Ärztin wissen. Na, die Symptome waren doch eindeutig – und zwar befand ich mich nach eigener Einschätzung in Phase zwei der Infektionskrankheit. Fachsprachlich war hier von Lues II die Rede. Hautausschlag am ganzen Körper. Die Lymphknoten, ja, die spürte ich auch – waren wohl angeschwollen. Fieber lag ebenfalls vor. Halsschmerzen: check. So richtig Appetit … Fehlanzeige. Dann erinnerte ich mich noch an die Kopfschmerzen von neulich. Es stimmte alles, hurra. Ob ich denn ungeschützten Verkehr gehabt hätte, häufig wechselnde Sexualpartner, fragte die Dermatologin weiter. Also, jetzt nicht direkt, meinte ich darauf. Ich hatte kürzlich meinen ersten Freund kennengelernt.
Lesen ist gefährlich, wie Sie sehen. Gerade im Bereich der Medizin. Meine gesamten Informationen hatte ich aus dem Band „Krankheit als Offenbarung. Praktische Tipps mit einfachen Anwendungsbeispielen“ bezogen. Anhand der Stichworte war die passende Diagnose schnell erstellt. Aber auch in der Astrologie wurde man schnell fündig. Egal, welches Sternzeichen man hatte: Das Geburtshoroskop passte garantiert. Oder sind Sie etwa nicht energisch, zu Größerem geschaffen, auch wenn die Welt das bisher nicht erkannt hat? Sind Sie etwa kein kompetenter Gesprächspartner und geschätzter Arbeitskollege?!
Heutzutage ist Lesen gefahrvoller denn je: Nicht nur glaubt man wegen eines ergoogelten Skorpion-Aszendenten an eine glänzende Karriere im horizontalen Bereich, ähnlich der eines Hugh Heffner. Fühlt man sich schlecht und gibt seine Symptome in die Suchmaske ein, hat man meist nur noch wenige Wochen zu leben und denkt über die Grabinschrift nach.
Nein, ich hatte keine Syphilis. Obwohl es befreiend sein kann, seine Wehwehchen einordnen zu können:
„Ich habe eine Glutenunverträglichkeit. Und du?“
„Bei mir wurde ein leichter Hang zu Diabetes festgestellt.“
Der neueste Trend ist übrigens ein Säure-Basen-Ungleichgewicht. Auch hier gibt es unzählige Erscheinungsformen, aus denen sich der willige Kranke welche herauspicken kann, um der Umwelt davon zu berichten.
Gerade in Osteuropa ist das Sich-Übertrumpfen auf dem Gebiet der Gebrechen sehr beliebt. Beim täglichen Small Talk ist manch einer froh, wenn er ein Ass im Ärmel hat, um damit seinen Gesprächspartner auszustechen. Besonders schwere Leiden machen sich dabei ganz gut. Alternativ vergreift man sich an ahnungslosen Opfern, die noch keine eigene Krankheit haben, und dichtet ihnen als Hobby-Weißkittel etwas an: „Ich glaub, Sikorska aus dem dritten Stock hat OECD. Die röchelt immer so.“ Oder hieß das COPD?
Hierzulande kommen Wehwehchenrankings langsam in Mode. Ich habe eine Freundin, die kann gar nicht anders, als jede Nachricht damit zu beginnen, wie schlecht es ihr gerade ginge. Jeder weiß ja: Ab vierzig geht es langsam abwärts. Neulich hatte sie drei Tage lang Migräne, vor einer Woche Magenschmerzen, momentan leidet sie an ungeklärten Schwindelanfällen. Ist erkältet. Ich war von ihrer Schilderung so mitgenommen, dass ich fast vergaß, ihr von meinem Hörsturz zu schreiben.
Aber ich war beim Lesen, das bedrohlicher ist als jede Krankheit. Auf manche wirkt es besonders ansteckend, mich zum Beispiel. Ich lese alles, was mir zwischen die Finger kommt, meist fünf Bücher gleichzeitig. Diese Art Papiernahrung geht mir besonders schnell ins Blut. So habe ich nach dem Lesen des gleichnamigen Buches schon innere Schweinehunde besiegt, war extrem motiviert und energiegeladen („Wie Sie sich innerhalb einer Stunde motivieren“), habe Bestellungen beim Universum aufgegeben, sehe das Leben nun positiv.
Neulich las ich einen Artikel über eine Art Route 66 in Schottland und mir war sofort klar, wohin mein nächster Urlaub gehen würde. Bis zu dem Tag, an dem ich eine umfangreiche Broschüre über Skåne in Südschweden zu lektorieren hatte – mit Bildern! Ich buchte einen Urlaub in Skandinavien und hoffte, dass zwischenzeitlich keine andere Region in meine wissbegierigen Hände gelangte.
Ebenso muss ich mich vor falschem Lesestoff in Acht nehmen. So sagte ich kategorisch nein, als mein Lektoratskollege mich bat, an seiner Stelle einen Flyer zu Bausparverträgen zu übernehmen. Ich brauchte keinen Bausparvertrag und das sollte auch so bleiben. Auch war das mit der Syphilis in der Adoleszenz noch ganz lustig, bebilderte Krankheitsratgeber gehörten hingegen nicht zu meinem Repertoire (wobei Fußnagelpilz gerade noch so okay war). Ging es aber um künstliche Darmausgänge, Glasknochen oder Spina bifida, dann verzichtete ich lieber.
Ich konnte mich viel zu gut in die Rolle der Protagonisten hineinversetzen, fühlte mich am nächsten Tag elender als ein Mann mit Männergrippe. Dann doch lieber eine Liebesschnulze, in der sich die abgewiesene Geliebte am Ende eine Kugel in den Kopf jagt. Das wirkte wiederum nicht. Und ganz nebenbei: Ich habe den Hype um verschmähte Liebhaber nie verstanden: Der männlichen Hauptfigur aus dem „Museum der Unschuld“ von Orhan Pamuk wollte ich auf jeder einzelnen der 577 Seiten zurufen: „Sie will nichts von dir, du Idiot. Sieh das endlich ein!“ Ich habs bereits auf Seite zwanzig gesehen, er erst, als sie tot war. Ähnlich in „Liebe in Zeiten der Cholera“. Wieder ein abgelehnter Lover, den die Herzensdame mit dem Hintern anguckte. Und wieder ein Nobelpreis. Immerhin: Die letzten dreißig Seiten waren gut und originell.
Überhaupt habe ich erst durch das Lesen festgestellt, dass ich mal mit einem Psychopathen liiert gewesen bin. Ich weiß, ich weiß. Sie werden jetzt sagen, das würden selbst erfahrene Psychiater oft nicht mit Sicherheit feststellen können. Doch die Anzeichen, die in dem Zeitungsartikel gelistet waren, passten fast alle: Unfähigkeit zur Bindung, Unzuverlässigkeit, Gefühllosigkeit, fehlende Empathie und so weiter.
„Aber das trifft doch auf die Hälfte der Männer zu“, sagte meine Freundin beim Kaffee. Ich blieb dabei: Wenn acht Punkte von zehn von der Psychopathencheckliste übereinstimmten, war der Typ bei mir abgeschrieben, auch wenn wir längst nicht mehr zusammen waren. Ich dachte schon daran, jenem Exfreund die Liste zukommen zu lassen – Einsicht ist der beste Weg zu Besserung –, las aber auch, dass man im Umgang mit Psychos Vorsicht walten lassen sollte.
In einigen Kulturen ist es Frauen verboten zu lesen. Da sind die jahrelang mit einem Geisteskranken zusammen und merken es nicht einmal!
Gott sei Dank war ich da weiter.