Brad Pitt und das Milieu

Ich saß bei Gosia auf der Couch. Gosia war Polin und ich hatte sie auf einem Datingportal kennengelernt, auf dem ich eigentlich nach Männern Ausschau hielt. Wir waren wegen der gleichen Herkunft ins Gespräch gekommen und hatten uns über die Onlinemänner ausgetauscht: Kennst du Sklave27, der sich bereit erklärt, einem die Einkäufe hochzuschleppen, und dafür keine Gegenleistung verlangt? Oder Surfboy, der dir nach zwanzig Mails ein Foto zuschickt mit dem Hinweis, es käme ja auf die inneren Werte an – und es täte ihm leid, dass er sein Profilfoto aus der Zeitung ausgeschnitten hat. Und wenn du runterscrollst, erfüllt das ganze Bild eine Kartoffelnase und sonst nichts und du hämmerst die ganze Nacht mit den Fäusten auf das Kopfkissen, weil du so blöd warst. So viel Zeit hineininvestiert, so viele Gefühle. Oder kennst du Curt, den modelnden Hotelbesitzer, der einen nie anrufen will, weil er noch sehr an seiner Ex hängt?

Beim Austausch hatten Gosia und ich festgestellt, dass wir einmal denselben Mann gedatet haben, und zwar am selben Tag. Ursprünglich hatte er sich mit mir treffen wollen, doch ich habe ihm im Vorfeld keinerlei horizontale Zusagen machen können, also hat er sich mit Gosia verabredet. Die wiederum war krank geworden, und so habe schließlich ich den Zuschlag erhalten. Nach dem Faktencheck mit meiner neuen Onlinefreundin wollte ich ihn zur Rede stellen, doch er hatte sein Profil bereits gelöscht.

Gosia wiederum fing zuletzt etwas mit einem selbsterklärten Nazi an, der zu Anfang ein wenig skeptisch gewesen war, weil – Nazi und Polin, das passte nicht wirklich. Er gestand ihr recht bald seine Liebe; ihm waren sogar die zehn Jahre Altersunterschied und Gosias sechsjähriger Sohn egal. Es war Liebe auf den ersten Blick, die allen Widrigkeiten standhalten sollte.

Bei eben jener Gosia saß ich auf der Couch und mit uns Joanna. Die erzählte gerade, wie sie sich täglich Obst und Gemüse aufs Gesicht legte, um die Spannkraft der Haut zu erhalten.

„Alles kannst du verwenden. Wenn du im Sommer Erdbeeren isst, zack, aufs Gesicht damit. Und Gurken. Alles, was man essen kann.“

Ich nickte anerkennend. Ja, trotz ihrer 34 Jahre und Kind, das nebenan schlief, sah sie top aus. Ein Männermagnet. Ich mit meinen 32 konnte mir gar nicht vorstellen, je in das Alter zu kommen. Aber wenn, dann wollte ich aussehen wie Joanna. Wenn ihr Freund auf Geschäftsreise war – erklärte sie weiter – würde sie vor dem Fernseher Fahrrad fahren und sich dabei Talkshows ansehen. Das tägliche Programm halt.

Dass Gosia sich keinen Avocado-Erdbeer-Mix ins Gesicht schmierte, sah man irgendwie, obwohl sie vier Jahre jünger war als Joanna. Das tat ihrem Erfolg bei Männern keinen Abbruch. Während die bei Joanna respektvoll auf Abstand gingen – sie waren überfordert von so viel Schönheit –, baggerten sie wie blöde an Gosia herum, zogen sie auf ihren Schoß, zupften an ihren Haaren herum und beknutschten sie in allen Ecken.

Joanna setzte ihren Charme immer dann ein, wenn sie einen Drink spendiert haben wollte: Dann suchte sie sich einen möglichst nerdhaften Mann aus, für den das bloße Gespräch mit ihr eine Ehre darstellte, plauderte ein wenig mit ihm, hier und da mal nicken und ihm ein-, zweimal tief in die Augen blicken.

An diesem Abend war sie irgendwie nicht in Stimmung. Und so bat sie Gosia und mich, nach dem Vorglühen ohne sie auf die Ü30-Party in Reinbek zu fahren.

Wir kamen gerade richtig – die Feier war in vollem Gange. Alles aus den umliegenden Ortschaften und halb Hamburg war auf der Tanzfläche. Wir kämpften uns durch nach hinten, wo die Bühne war, die heute nicht genutzt wurde, und beschlossen, dort unsere Basis zu errichten. Gosia hüpfte los, um zwei Bacardi Breezer für uns zu holen, für mich einen orangefarbenen, für sie einen roten. Ich legte unsere Handtaschen auf die Bühne, deckte sie mit dem Armanijäckchen ab, das ich mal geschenkt bekommen hatte. Gosia war wieder da, reichte mir meinen Breezer und begann, mit ihrem in der Hand schon mal zu tanzen.

Nein, nein, ich selbst wollte noch nicht – ich winkte ab und deutete auf meine Flasche – zündete mir stattdessen eine an, saß auf der Bühne und ließ meine Beine herunterbaumeln. Nach der Kippe und dem roten Breezer holte ich mir einen gelben – Gosia tanzte unermüdlich weiter – und noch einen roten für sie. Beim Anstoßen zeigte sie mir einen Mann, der ihr ganz gut gefiel. Geschickter Tänzer, blond, sah nicht verkehrt aus, muss ich zugeben, wenn auch eher nicht mein Typ. Ich stand auf Dunkelhaarige.

Die zweite Zigarette war aufgeraucht, die zweite Flasche leer; es kam der Zeitpunkt, in Aktion zu treten. Ich setzte meine Füße auf den Boden und ließ den Rhythmus der Musik auf mich wirken. Der DJ kam in Schwung; die Party versprach, super zu werden.

Aus dem Nichts tauchte der Blonde von Gosia auf, tanzte vor mir und schaute mich an. Im Tanz erwiderte ich seinen Blick. Tänzelnd bewegten wir uns umeinander herum. Während er tanzend die Frage formulierte, gestaltete ich tänzerisch meine Antwort darauf und fragte mich nebenbei, welche Antwort ich der enttäuschten Gosia wohl auf das, was ich gerade veranstaltete, später vortanzen würde, ganz im Geiste Rudolf Steiners. Aber sicher bemerkte sie das nicht. Der Blonde bewegte sich nach rechts, ich mich nach links. Ich ging bestimmt auf ihn zu und machte im letzten Augenblick kehrt, er folgte mir. Wir drehten uns umeinander, ohne uns aus den Augen zu lassen. Es kam ein weiteres Lied. Inzwischen waren wir eingespielt, bewegten uns geschmeidig einer um den anderen. Am Ende des Stückes kam er auf mich zu und sagte: „Es ist toll, mit dir zu tanzen.“

Dann war er weg.

Ich konzentrierte mich wieder auf Gosia, ging zu ihr hinüber, doch die hatte das alles nicht mitbekommen oder wollte es nicht mitbekommen haben. Ein Lied goss sich ins andere. Es war wie eine EKG-Kurve, wo ein Liederhöhepunkt auf den nächsten folgte. Bei einem der Highlights, „Yeah“ von Usher, spürte ich den Blick von Brad Pitt auf mir. Brad Pitt oder eher das, was er ein paar Jahre vorher gewesen war. Er musste um die 25 sein. Und schaute mich an. Von einer Leichtigkeit beflügelt, legte ich eine Show aufs Parkett. Er guckte nach wie vor. Ich sah, dass er – wie der Blonde – zu einer Gruppe junger Leute gehörte, die an die Bühne gelehnt waren. Usher war vorbei; ich tanzte weiter, konnte jetzt nicht einfach aufhören, hatte einen Lauf. Noch zwei Lieder, dann Trinkpause. Er schaute immer noch, egal, ich hatte Durst. Seine Freunde standen nicht mehr vor der Bühne, sodass ich problemlos an meine Handtasche kam. Ich griff hinein, doch da war kein Portemonnaie. Ich verstand nicht, schaute verwirrt hoch.

Klick, klick, fügte sich ein Steinchen ans andere und ich setzte Gosia darüber in Kenntnis, dass uns die Gruppe ihres blonden Typen beklaut hatte. Während ich überlegte, was zu tun sei, ging sie bestimmt auf Blondy zu, der an der Bar lehnte, und schleuderte ihm vorwurfsvoll entgegen: „Wo ist mein Geld?! Ich hab ein Kind, das ich ernähren muss. Wie kannst du mich beklauen, du blöder Hund?“

Jammern half hier nicht, praktisches Handeln war angesagt. Auf meine Anweisung hin schaute Gosia in ihre Tasche: Ups, ja, ihre Geldbörse war noch da. Sie grinste verschämt in Richtung des Blonden. Ihre Geldbörse war nicht weg, dafür aber zusätzlich zu meiner noch mein Armanijäckchen, wie mir zwischenzeitlich aufgefallen war. Ich blickte in die Runde, suchte nach der Clique, meine Augen begegneten denen zweier Jungs, die sich langsam in Bewegung setzten. Die anderen waren bereits unterwegs zum Ausgang. Ich schaltete schnell, griff nach meiner halbleeren Handtasche und rannte Richtung Ausgangstür, umlief schunkelnde Partygäste, herumstehende Frauen und Männer, die in nicht mehr nüchternem Zustand eine seltsame Variante des Kasatschoks vollführten. Gott sei Dank hatte ich mich heute für Stiefel mit flachen Absätzen entschieden. Ich rannte und erreichte die Jungs von der Einlasskontrolle, keuchte: „Die, die da kommen, die haben mein Portemonnaie geklaut.“

„Wirklich?“

„Auf jeden Fall. Haltet den Dieb!!!“

Der Türsteher bat die jungen Leute mit der gebotenen Höflichkeit stehenzubleiben. Die sahen das gar nicht ein, wollten vorbei, gingen weiter. Der Türsteher packte zu und im nächsten Augenblick waren zwanzig Menschen in eine Schlägerei verwickelt. Ein aggressives Mädel stürmte auf mich los, wohl nicht, um friedlich mit mir zu diskutieren, wurde im letzten Moment von Türsteher Numero zwo gegriffen. Im Hintergrund sah ich den Blonden verständnislos und überrascht auf einen Stuhl sinken – nach einem klassischen linken Haken.

Eine Massenschlägerei und ich mitten drin – was a Freid! Lange würde das Spektakel nicht andauern, informierte mich ein weiterer Türsteher. Sie könnten die Übeltäter ohne polizeiliche Anordnung nicht noch länger aufhalten. Ich rief die Polizei an, doch wenn man die braucht …

Die jungen Leute durften die Disco verlassen. Inzwischen saß ich mit Gosia oben vor dem Eingang, rauchte und schimpfte: „Wie in Polen hier. Überall wird geklaut.“ Der junge Mann, der an uns vorbeiging, blickte kurz auf.

Es half alles nichts; nicht die Zigarette, nicht die Ordnungshüter. Wir konnten nach Hause fahren, hier war nichts mehr zu holen. Offenbar musste ich den Heimweg bloß ohne Mantel antreten, denn die Garderobenmarke befand sich ja in meinem Geldbeutel. Müde von einem weiteren Erklärungsversuch erklärte ich der Garderobenfrau den Vorfall ein weiteres Mal – und bekam ein Portemonnaie und ein Jäckchen überreicht. Ob das zufällig meine seien. Die wurden abgegeben.

Ein Blick in die Geldbörse: Tatsache! Das Geld – immerhin 30 Euro – war noch da! Zwar roch es nach Erbrochenem, aber wer wird da kleinlich sein. Auch das Jäckchen war nicht mehr ganz frisch. Die Garderobenmarke fand sich ein, wir waren komplett und konnten uns jetzt sogar ein Taxi nach Hause leisten.

Auf der Heimfahrt erzählten wir uns immer wieder Details dieser unglaublichen Geschichte, erzählten sie dem Taxifahrer, der es eigentlich nicht wissen wollte, weihten ihn in unsere Theorien ein: Vielleicht waren es die kleinen Mädchen gewesen, die aus Rache mein Portemonnaie wegen meines Flirts mit Brad Pitt versteckt hatten. Gosia stellte die Vermutung auf, dass Brad Pitt an Kleptomanie litt.

Ich prustete los und war bereit für das Fazit des Abends: Von blendend aussehenden Dieben ausgenommen zu werden, das hatte schon irgendwo Stil.


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