Ich habe mit der Sexologin Susanna-Sitari Rescio über die verschiedenen Facetten von Sex gesprochen und von ihr Interessantes dazu erfahren, warum Frauen oft Orgasmusschwierigkeiten haben. Sie beantwortet auch die Frage, ob Männer und Frauen überhaupt kompatibel sind.
Was ist guter Sex?
Das weiß ich nicht.
(Ich lache.)
Ich kann sagen, was für mich guter Sex ist, nicht aber, was für dich guter Sex ist – oder für jemand anderen. Es gibt nicht den einen Sex, sondern verschiedene Formen der Sexualität. Im Grunde geht es darum, herauszufinden, was ich mag, was du magst – und was wir beide daraus machen.
Das heißt, es gibt keine Techniken, die man erlernen kann, um eine gute Liebhaberin zu sein?
Das ist etwas anderes – da geht es um das erotische Know-how. Bestimmte Fertigkeiten sind durchaus sinnvoll. Ein Beispiel: In der Regel werden wir mit zwei Händen geboren und wissen noch nicht, was wir damit alles machen können: Klavier spielen, auf dem Laptop schreiben, malen. Wir können mit unseren Händen verschiedene Dinge machen – wenn wir es lernen.
Genau so ist es in der Sexualität: Wir sind nicht nur in der Lage, uns selbst Freude und Genuss zu schenken, sondern auch einer zweiten Person.
Es gibt durchaus bestimmte Fertigkeiten, wie zum Beispiel das Küssen – auch wenn das erstmal banal klingt. In meiner Praxis bringe ich Menschen tatsächlich bei, sich zu küssen. Denn es gibt unterschiedliche Arten, es zu tun, und nicht jeder mag die gleiche. Ich habe vielleicht meine eigene Art – wenn ich aber weiß, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, kann ich besser auf mein Gegenüber eingehen.
Natürlich ist es möglich, bestimmte Dinge zu lernen. Sex ist ein lebenslanger Lernprozess. Und dennoch ist das kein Widerspruch zu dem, was ich zu Anfang gesagt habe: dass es verschiedene Vorlieben gibt. Es ist jedes Mal ein neues Abenteuer, wenn man auf eine unbekannte Person trifft.
Man kann lernen, sein erotisches Potenzial zu entfalten, oder man lernt, wie das Küssen funktioniert, wie Berührungen. Wie man sich selbst zum Höhepunkt bringt, wie man anderen Menschen Lust und Erregung bis hin zum Orgasmus schenken kann.
Natürlich könnte ich den Flohwalzer auf dem Klavier mit zwei Fingern spielen – und auf eine ähnliche Art auch Sex haben. Oder ich nutze alle meine Finger und die gesamte Klaviatur. Das kann ich üben. Was ich dann spiele, ist individuell und nach meinem Geschmack: Klassik oder Jazz oder etwas Modernes.
Du hast Bücher zum Thema Berührung geschrieben. Warum ist Berührung so wichtig?
Es ist ein Grundbedürfnis aller Menschen, sowohl auf emotionaler als auch auf körperlicher Ebene. Auf emotionaler Ebene, weil gewünschte Berührung gute Gefühle erzeugt: von Verbindung, Zärtlichkeit, Zuneigung, Liebe. Berührung kann Gefühle zehnmal besser vermitteln als Worte. Natürlich kann ich sagen: „Ich hab dich lieb“, aber wenn ich das durch meine Berührungen zeige, wird es authentischer. Es erscheint auch zehnmal wahrhaftiger; dazu gibt es sogar Studien.
Auf körperlicher Ebene ist Berührung lebensnotwendig. Es werden Rezeptoren stimuliert, über die Nervenbahnen gelangen die Impulse dann ins Gehirn, wo Prozesse in Gang gesetzt werden, die unter anderem das Immunsystem stärken. Babys, die in jeglicher Hinsicht versorgt, aber nicht berührt wurden, haben in den meisten Fällen das erste Lebensjahr nicht überlebt – dies hat man anhand einiger Fälle gezeigt.
Berührung ist essenziell, wir können nicht ohne. Es ist der erste Sinn, der sich entwickelt, und zwar bereits im Mutterleib. Der Tastsinn ist auch der letzte Sinn, der nachlässt. Wir überleben, ohne zu sehen, ohne zu hören – aber nicht ohne den Tastsinn.
Und warum ist für dich selbst Berührung so wichtig?
Glücklicherweise habe ich als Kind jede Menge Berührungen bekommen – meine Mama hat viel geschmust, mein Papa auch. In dieser Hinsicht bin ich gut genährt. Wegen einer Erkrankung, die ich hatte, habe ich ab dem Alter von 15 Jahren Massagen bekommen – und auch selbst Menschen massiert. Ich bin in Italien aufgewachsen, und wenn wir da im Sommer am Strand lagen, war es mir zu langweilig, einfach in der Sonne zu braten –, also habe ich meine Freunde massiert.
In Deutschland widmete ich mich durch ein besonderes Ereignis der tantrischen Berührung. Jetzt bin ich schon seit zwanzig Jahren dabei; es ist ein Leitmotiv in meinem Leben. Ich bringe Menschen in meinen Kursen die Tantramassage bei, die nichts anderes ist als eine Form achtsamer sinnlicher Berührung. Inzwischen habe ich auch Sexologie studiert und auch zur tantrischen Berührung geforscht. Durch meine Forschungsarbeit wurde die tantrische Berührung zum Teil dieses Studiengangs, weil man festgestellt hat, dass sie ein wesentlicher Aspekt erfüllter Sexualität ist und daher zur Sexualberatung dazugehört. Seitdem unterrichte ich werdende Sexualtherapeutinnen und -therapeuten unter anderem darin – und die bringen es anschließend ihren Klientinnen und Klienten bei. Die Basics können nämlich sehr gut in einer Sitzung vermittelt werden, in der ich ausschließlich berate.
Bei dieser meditativen Form der Berührung habe ich unglaubliche Erfahrungen gemacht – ob in den Gruppen, die ich leite, mit mir selbst, oder aber mit den Menschen, die ich berührt habe.
Du bezeichnest Sex als Kunst. Warum?
Als Sexologin habe ich es gelernt, Erregung als angeborenen physiologischen Reflex zu betrachten: Ein Reiz erreicht unser Gehirn und wird als sexuell relevant erkannt. Das Gehirn sendet den Befehl aus, vermehrt Blut in die Genitalien zu pumpen. Das ist die Physiologie der Sexualität, es passiert unwillkürlich. Mit diesem Reflex kommen die meisten von uns zur Welt, es sei denn, sie haben eine neurologische Störung.
Zwar ist der Reflex angeboren, trotzdem dürfen wir lernen, damit umzugehen. Wenn wir Sexualität als reinen Fortpflanzungstrieb betrachten, dann reichen uns 30, 40 Sekunden Geschlechtsverkehr. Wir Menschen haben aber mehr daraus gemacht, haben gemerkt, dass die Reise zwischen dem Erregungsreflex und dem Orgasmus interessanter gestaltet werden kann. Diese Gestaltung betrachte ich als erotische Kunst.
Wir haben gelernt, diese Reise lustvoll zu gestalten – und lernen jeden Tag dazu. Mit unterschiedlichen Berührungen, in unterschiedlichen Räumlichkeiten, gespickt mit Fantasien, mit Rollenspielen, mit Positionswechseln, mit Fertigkeiten: Ich kann unterschiedlich küssen, unterschiedlich berühren. Ich weiß, wie ich Oralsex schenken kann. Ich weiß auch, wie ich ihn gern bekommen möchte. Das sind alles Lernschritte.
Werden wir geboren, können wir weder schreiben noch lesen, wir lernen es. Später erlernen wir möglicherweise eine Fremdsprache. Auch die Sexualität ist eine Art Sprache mit verschiedenen Modalitäten. Je mehr ich lerne, desto wohler fühle ich mich, weil ich besser mit anderen kommuniziere. Ein Dialog entsteht. Wenn ich nur Italienisch sprechen würde und du nur Deutsch, könnten wir uns nicht miteinander unterhalten.
Das kannst du auf eine sexuelle Begegnung übertragen: Wenn du bei deiner Sprache bleibst, ich bei meiner und jede von uns daran festhält, wird es schwierig. Sobald ich aber weiß, dass es nicht nur eine Sprache gibt und dass alle Sprachen gleichwertig sind, kann mehr entstehen.
Jeder Mensch hat eine eigene Vision von Sex. Wenn die andere Person nicht passt, nehmen wir es sofort persönlich und sagen: „Du verstehst mich nicht, hörst mir nicht zu. Du magst mich nicht, liebst mich nicht.“ Anstatt zu fragen: „Hey, welche Sprache sprichst du? Bringst du sie mir bei?“
Auf deiner Website bietest du einen Workshop mit dem Titel „Tantra meets BDSM“ an. Meine erste Reaktion, als ich das gesehen habe, war: „Hä?! Wie geht das denn?“ Das eine ist sanft, das andere hart – beide Praktiken widersprechen sich. Oder etwa nicht?
Hier müssen wir erstmal klären, was ich mit Tantra meine: Das, was wir heutzutage unter Tantra verstehen, ist im Grunde Neotantra. Tantra selbst ist eine alte spirituelle Tradition aus Indien. Der spirituelle Lehrer Osho hat sie wiederaufleben lassen und mit den damaligen therapeutischen Erkenntnissen gemixt. Er hat Bewegungsmeditation und Körperarbeit mit Ritualen aus dieser alten Tradition verbunden lassen und so das Neotantra gegründet. Wenn wir uns heute mit Tantra beschäftigen, geht es in erster Linie um Neotantra. Sobald die sexuelle Energie miteinbezogen wird, spricht man von rotem Tantra. Ergänzend dazu gibt es auch das weiße Tantra, das im klassischen Sinne meditativ ist.
Ich verstehe Tantra als einen individuellen spirituellen Weg der Erkenntnis, nicht als Sammlung von Techniken oder Praktiken, die Paare erlernen, damit sie besseren Sex haben. Für mich ist es der Weg, den ich gehe, um mich selbst besser zu verstehen und möglicherweise transpersonale Erfahrungen zu machen. Ich sehe es ganzheitlich. Dabei geht es unter anderem um die Überwindung der Dualität: gut, nicht gut, oben und unten, Körper oder Geist, Sex oder Liebe. Im Fokus steht die radikale Akzeptanz aller vermeintlichen Gegensätze in uns selbst und im Leben. Es geht nicht nur um das Herz oder die Gefühle oder nur den Körper, sondern die Verbindung von allen dreien.
Aus meiner Sicht ist Tantra nicht zart, langsam und weich. Natürlich wird die Wahrnehmung geschult, wenn man entschleunigt. Aber Tantra ist nicht nur sanft. Es gibt dort Tag und Nacht, Regen und Sonne; es gibt zart und es gibt kraftvoll. Das ist wieder die gesamte Klaviatur: Das Zarte ist nicht besser als das Kraftvolle – und umgekehrt. Es geht darum, ein Bewusstsein für beides zu entwickeln. Im besten Fall gehen beide Beteiligten auf die aktuellen Bedürfnisse des anderen ein, integrieren sie.
Selbstverständlich darf man dann immer noch sagen: „Ich möchte es zart.“ Oder: „Ich möchte es langsam.“ Oder: „Ich möchte es nicht so, sondern …“ Damit wird aber kein Urteil über die andere Person ausgesprochen.
Natürlich bewege ich mich hierbei als Sexologin in einem legalen Feld, in dem Menschen respektvoll miteinander umgehen, wo die Grenzen gesteckt sind und klar kommuniziert werden. Innerhalb dieses Felds sind für mich alle gleichberechtigt. Dann geht es nur darum zu schauen, wie wir uns besser begegnen können, wenn wir unterschiedliche Sprachen sprechen.
Und trotzdem habe ich die Vorstellung: Wer Tantra macht, ist achtsam. Wer BDSM praktiziert, steht auf harte Sachen. Wie bist du auf die Idee gekommen, beides zu verbinden?
Das war auch mein Vorurteil; ich habe meine Meinung inzwischen revidiert. BDSM ist eine Welt, in der das eine wie auch das andere passieren kann. Dabei gehen manche Menschen über bestimmte Grenzen hinweg – das sind aber bestimmte Personen, es ist nicht das BDSM an sich. Innerhalb dieses Bereichs gibt es aber welche, die Achtsamkeit praktizieren. Manchmal spielt es sich lediglich auf psychologischer Ebene ab: Der eine ist devot, der andere dominant. Physische Reize wie Schmerz spielen dabei keine Rolle. Das geschieht im Rahmen einer Vereinbarung: Beide beschreiben ganz klar ihre Grenzen. Zudem kann man durch ein Codewort signalisieren: „Bis hierhin und nicht weiter.“ Das heißt, man kann sehr genau dosieren – das kenne ich vom Tantra her zum Beispiel nicht. Achtsamkeit und BDSM sind daher kein Widerspruch an sich.
Es gibt tatsächlich Menschen, die stärkere Reize brauchen, wie zum Beispiel Schmerz, um etwas zu spüren. Das ist ihre erotische Homebase. Andere hingegen sind sehr empfindlich, reagieren bereits auf leichte Reize intensiv.
Zu mir kommen auch Leute, die in der kinky Szene unterwegs sind. Ich hatte da bis vor kurzem allerdings keine praktischen persönliche Erlebnisse. Daher habe ich mich dort umgeschaut und die eine oder andere Erfahrung gemacht – nicht jede war gut. Ich hatte das Glück, zwei Frauen kennenzulernen, die Dominas sind und bei mir die Ausbildung zur Sexualberaterin abgeschlossen haben. Den beiden schlug ich vor, bei uns am Institut einen Kurs zu geben, und konnte zuschauen. Es war beeindruckend, wie sie das geführt haben. Beide sind Tantrikerinnen, das heißt, sie haben die zwei Welten in sich vereint: die Achtsamkeit, die Berührung, aber eben auch Elemente aus der BDSM-Szene.
Den Workshop habe ich eingerichtet für Menschen, die ihr Erfahrungsspektrum erweitern möchten, sich aber vielleicht nicht trauen und dies gerne in einem geschützten Raum machen würden. Ich selbst war in Räumen, die nicht so achtsam waren, und wollte es anders machen. Außerdem kommen auch gegensätzliche Paare zu mir: Der eine möchte Slow Sex, die andere SM. Die können in so einem Workshop auch zueinanderfinden.
Schämen sich Frauen mehr als Männer, wenn es um Sex geht? Es heißt ja oft, Frauen hätten weniger Interesse an dem Thema. Ist das auch deine Beobachtung?
Bei allen, die zu mir kommen, beobachte ist, dass sich nach fünf Minuten alle Geschlechter gleichermaßen öffnen. Natürlich kann es damit zusammenhängen, dass sie sich entschieden haben zu kommen und die erste Hürde überwunden ist. Aber auch weil sie hier einen geschützten Raum finden, jemanden, der nicht urteilt und dazu noch fachkundig ist.
Natürlich sind die meisten verunsichert, weil sie merken, dass da etwas nicht so läuft, wie es laufen sollte – wobei das konditioniert ist dadurch, was unser Umfeld uns vermittelt, also Bücher, Kino, Werbung. Dort ist alles perfekt, es gibt zehn, zwanzig, dreißig Jahre Leidenschaft. Ich sage den Leuten, dass das Quatsch ist und dass es bei mir um normalen Sex geht.
Sind Männer und Frauen eigentlich kompatibel? Die gängigen Vorurteile lauten doch: Der Mann möchte schnell ans Ziel kommen, der Frau geht es eher um das Vorspiel. Wie passt das zusammen?
Die bekannte amerikanische Psychologin Emily Nagoski sagt, es gebe mehr Unterschiede zwischen unterschiedlichen Frauen und unterschiedlichen Männern als zwischen den beiden Geschlechtern. Es gibt verschiedene Menschen mit verschiedenen Persönlichkeiten.
Es ist nicht richtig, dass Männer schnell zur Sache kommen wollen und Frauen eher das Vorspiel mögen. Es stimmt auch nicht, dass Frauen generell lange brauchen, um zum Höhepunkt zu kommen: Das kann innerhalb von 30 Sekunden passieren, sogar ohne dass sie angefasst werden oder sich selbst anfassen. Männer brauchen zum Teil ebenfalls lange und haben Probleme, einen Orgasmus zu bekommen. Es verteilt sich.
„Ein Mann will immer, er kann immer. Sex ist EPO – Erektion, Penetration, Orgasmus. Eine Frau will nicht.“ Das alles sind Stereotype.
Wahr ist aber, dass die meisten Frauen in heterosexuellen Beziehungen nicht den Höhepunkt erreichen. Es gibt einen großen Orgasmus-Gap. Dadurch kommt es zu weiterführenden Problemen: Der Orgasmus ist eine enorme energetische Entladung, die das gesamte System reinigt.
In den ersten drei Monaten der Verliebtheit ist der Sex noch toll. Aber nach drei Jahren ohne Orgasmus entwickeln Frauen Lustlosigkeit. Keinen Orgasmus zu haben bedeutet, dass auch die Erregung eine bestimmte Schwelle, eine bestimmte Intensität nicht erreichen kann. Dementsprechend kann es auch passieren, dass die Vagina nicht feucht genug wird oder – gerade wenn die Erregung noch nicht stark genug ist –, dass sie nicht „erigiert“, das heißt länger und weiter wird. Dies kann dazu führen, dass die Penetration als unangenehm erlebt wird. Die Vagina ist sozusagen noch nicht bereit, „einen Gast zu empfangen“. Im schlimmsten Fall können Mikroverletzungen entstehen, die zu verschiedenen Infektionen wie einer Blasenentzündung – führen können.
Diese Unterschiede gibt es schon, aber sie sind nicht biologischer Natur. Den Orgasmus zu erreichen, ist ein Lernprozess, für Männer und Frauen. Aus anatomischen Gründen ist es für Männer leichter: Das Genital des Mannes ist hauptsächlich im Außen, das der Frau zum größten Teil eher versteckt – die Vulva verändert sich auch nicht so sehr wie der Penis.
In der sexuellen Entwicklung des Menschen lernt der kleine Junge, seinen eigenen Penis anzufassen, ob beim Wasserlassen oder Waschen. Diese taktilen Reize – jetzt kommen wir wieder zur Berührung – führen dazu, dass immer wieder Stimuli ans Gehirn weitergeleitet werden. Dadurch entsteht eine Art Landkarte des Körpers. Bei der Berührung merkt der Junge, dass sich das gut anfühlt; er lernt, wie er sich anfassen kann, um seine Erregung zu steigern. Auf diese Weise bildet sich eine neuronale Autobahn zum Gehirn.
Ja, natürlich! Das ist hochinteressant.
Bei den Mädchen ist das nicht der Fall, da ist die Anatomie anders. Sie können genauso Erregung empfinden wie die kleinen Jungen, allerdings ist die körperliche Veränderung nicht so markant.
Und noch eine anatomische Besonderheit: Der Penis ist besser vor Infektionen geschützt. Die Vulva und Vagina sind offen, so können Bakterien eindringen. Vor nicht allzu langer Zeit waren die hygienischen Verhältnisse noch anders, deshalb hatte man zu Mädchen gesagt: „Fass dich da unten nicht an.“ Und zwar nicht nur aus moralischen Gründen, sondern schlichtweg weil es gefährlich war. Man hat uns das eingetrichtert, uns in dem Bereich nicht anzufassen. Bei uns Frauen bildet sich eher eine Landstraße mit vielen Baustellen anstatt eine schnelle Autobahn zum Gehirn. Das macht für uns oftmals den Weg zur Lust etwas holperig. Die neuronalen Verbindungen – und damit die Landkarte – können sich nicht optimal bilden.
Wir Frauen berühren unsere Vagina oft zum ersten Mal, wenn wir mit der Geschlechtsreife einen Tampon einführen. Die wenigsten, die schon in der Pubertät mit der Selbstexploration beginnen, dringen mit dem Finger ein. Wenn es aber nicht so viele taktile Reize gibt, entstehen auch nur Trampelpfade. Das Abbild im Hirn ist daher diffus; die Vagina bleibt unbetretenes und unbewohntes Land.
Wenn ich im Gehirn kein akkurates Abbild habe, habe ich auch eine weniger bewusste Wahrnehmung dessen, was mir guttun würde. Und wenn ich die nicht habe, erkenne ich nicht, was ich brauche, was sich gut anfühlt und was nicht – es bleibt ein nebulöses Gefühl.
Dieser anatomische Unterschied wurde durch die Kultur, Sozialisation und Religion zusätzlich verstärkt.
Wobei das kein Schicksal ist. Wir können sehr wohl etwas dagegen tun, denn die neurologischen Verbindungen sind bei beiden Geschlechtern gleich. Es geht darum, aktiv zu werden, Kontakt mit unserem Genital aufzunehmen, die Vagina zu explorieren, sich zu berühren und einiges nachzuholen, das sexuelle Potenzial zu entfalten.
Interessant. Das war mir in der Form nicht bekannt.
Das ist das Problem. Vieles von diesem fundierten sexologischen Wissen ist nicht bekannt. So kommen die Glaubenssätze zustande.
Wenn wir Frauen als Mädchen genauso die Chance hätten, die Vulva zu berühren, die Vagina zu explorieren, wie der kleine Junge es von Anfang macht, würden wir ebenfalls eine Autobahn zum Gehirn aufbauen und hätten vermutlich nicht so häufig Orgasmusschwierigkeiten.
Besten Dank, Susanna, für das wirklich erhellende Gespräch.
Wer mehr zu Susannas Arbeit erfahren möchte: Hier geht es zum SoHam Institut Hamburg.
Aus meiner Sicht liegen Sexualität, Musik und Tanz eng beieinander. In diesem Interview erzählt Ashish vom befeienden Tanz, bewegter Mediation und den vielen Schattierungen von Spiritualität: Ausflippen mit System
Titelbild: © iStock/Deagreez
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