30 Kilo in 3 Tagen

Ich habe eine Freundin, Sabine. Sabine ist glühende Anhängerin der fernöstlichen Harmonielehre Feng-Shui. Sie ist ein Gourmet. Und macht Diät. Immer. – Nicht dass dies ein Problem darstellen würde …

Nach ihrem Paris-Urlaub war Sabine jedoch erstmal mit einer anderen Problematik konfrontiert: Sie hatte sich aus dem Internet das Rezept für einen Coq au Riesling heruntergeladen, alles lief gut. Bis zu dem Zeitpunkt, als ihr einfiel, dass man zum Öffnen eines Weins einen Korkenzieher brauchte, sie aber nach wie vor nicht im Besitz desselben war (alkoholisch war sie eher im Bereich Gin Tonic unterwegs). Die bekannte Freestyle-Methode führte zum bekannten Ergebnis: Korken drin in der Flasche, Riesling im Gesicht, Riesling an den Händen, Riesling über den Boden verteilt. Und als sie die Flasche in die Hand nahm, rutschte ihr der Riesling auch noch aus der Hand. Riesling on the floor.

Eine weitere Improvisation war angesagt: Sie entdeckte in der Speisekammer einen Rotwein, der ihr von jemandem zu irgendeiner Gelegenheit als Geschenk in letzter Minute überreicht worden war und der nun – endlich! – seinen Einsatz im Hähnchentopf fand. Rotweinwolken stiegen aus dem vor sich hin köchelnden Coq-au-Rotwein-Topf hoch, ein Rieslingdunst stieg vom Küchenboden hoch beim Wischen und Wiederwischen und Scherbenaufsammeln; die Hausschuhe klebten am Boden fest, der Wischmopp müffelte nach Riesling – Sabine war schon ganz duselig.

Benebelt vom Wein und – wie ihr schien – von leichtem Fieber torkele sie ohne Appetit ins Bett und lag flach mit einer dicken Erkältung, die aus dem Nichts gekommen war. Sabine schaffte es gerade noch, ihrem Lebensgefährten Holger, den sie vor Kurzem kennengelernt hatte, eine SMS zu schicken: „Schatz, ich wollte Dir sagen, wie gern ich Dich habe.“

Der kam herbeigeeilt, ihm schwante Böses. Er brachte ihr eine Lebensmittelration und die Post von unten. Ein Flyer von „Lingua nostra“ war darunter. Zu Anfang ihres Studiums hatte Sabine den Fehler gemacht, eine Gratis-Sprach-CD anzufordern – und nun war sie Abonnentin eines kostenlosen sprachlichen Dauersendedienstes. Man redete ihr gut zu, noch heute einzusteigen und gleich morgen fließend Kantonesisch zu sprechen. Dazu ein weiterer Prospekt, der eines Diätmittelanbieters: „Fit mit der PVC-Diät“. Das Testimonial des Herstellers PVC war von einer Sabine – welch Zufall. 1,64, 90 Kilo. Sabine aus dem Werbeprospekt sagte aus, dass sie beim Betrachten ihrer Urlaubsfotos geschockt gewesen sei ob ihrer Leibesfülle, die ihr vorher nie so direkt aufgefallen war. Sie habe prompt mit einer Diät bei PVC angefangen. Mit Shakes und Riegeln in spektakulären 18 Sorten, von herzhaft bis süß – für jeden etwas dabei. Daneben ein Vorher-nachher-Foto.

Die Sabine im Bett war alarmiert. Sie war ebenfalls gerade aus dem Urlaub wiedergekommen! Und blätterte schnell die Urlaubsbilder in ihrem Smartphone durch, griff erschrocken in die Gummibärchentüte und rief in Richtung Holger: „Schatz, findest du mich zu dick?“

Der hörte nichts oder wollte nichts hören.

„Hier steht, dass Sabine von ihrem Partner voll unterstützt wurde“, schrie sie. „Während ihrer PVC-Einstiegsphase.“

„Aha“, kam es aus der Küche.

Eine verunsicherte Diättreibende wollte auf dem nächsten Blatt wissen, ob man zwischen den festgelegten PVC-Mahlzeiten Obst naschen dürfe.

„Um Gottes Willen“, so die kategorische Antwort von Frau Wohlwill aus der PVC’schen Marketingabteilung. „Das treibt den Insulinspiegel nach oben und dann ist ganz schlecht mit Abspecken.“

Und auf Seite drei: „Nehmen Sie sich in Acht vor unseriösen Anbietern. Oft wird mit Wunderdiäten gelockt.“

In Sabine reifte ein Entschluss: Ab sofort würde sich ihr Leben ändern. Drei Gummibärchen noch.

Holger war einverstanden – was sollte er auch tun. Daher ersetzten sie das für Freitag geplante kleine Festmahl durch je zwei PVC-Riegel: herzhaft und danach süß. Holger begutachtete misstrauisch die Produktverpackung des Erdbeerriegels. „Da sind ja lauter Sulfite, Sulfate, Phosphate und Kortikoide, Pardon: Steroide drin. Und schau mal hier: ‚Kann Spuren von Erdbeere enthalten‘.“

„Deswegen ist er ja so gesund!“, rief Frau Wohlwill aus dem Off. Und die Werbesabine bekräftigte inbrünstig: „Ich stopfe schon seit Wochen dieses völlig überteuerte Zeugs in mich hinein und fühle mich sauwohl dabei!“

Sabine auf der Couch beschränkte sich nur darauf, ihrem Freund einen verachtenden Blick zuzuwerfen und ihm die Packung aus der Hand zu reißen.

Holger holte den Wein aus der Speisekammer. Der war für den heutigen Tag vorgesehen – ihn hatte er sich nicht ausreden lassen. Er war schon unterwegs und klingelte bei den kiffenden Nachbarn nebenan, um sich einen Korkenzieher zu borgen, doch die kifften heute auswärts. Oma Käthe von oben war gerade in der Badewanne. Bei dem neu zugezogenen Paar von unten hatte er Glück. Stolz wie Oskar präsentierte er die Flasche, den daraus befreiten Korken und goss Sabine und sich ein.

„Weißt Du, Holger, neulich habe ich was Interessantes gelesen. Da ging es um Frauen und Männer und um Alterspräferenzen. Es gab eine Tabelle für Männer und Frauen und darin die Angabe, wie alt die Männer waren, die Frauen in einem bestimmten Alter bevorzugten, und umgekehrt.“ Sabine nippte an ihrem Glas: „Mädels um die 20 standen auf ältere Jungs, so 35. Frauen um die 30 auf 40-Jährige, die Damenwelt um die 40 wiederum genauso auf 40-jährige Pendants, die 50-Jährigen auf 45-Jährige und mit 60 schließlich auf 65-Jährige.“

„Aha.“

„Bei den Kerlen wurde es richtig spannend. Da hielt sich der Wert konstant bei 20, egal, wie alt der Mann war. Die Frau sollte 20, 20, 20, 20, 20 sein. Witzig, oder?“

„Ja, aber warum stehen die beiden Garderobenständer aus deinem Schlafzimmer nun im Wohnzimmer?“, fragte Holger.

„Ach das“, Sabine winkte ab. „Die Garderobenständer hatten im Schlafzimmer denkbar ungünstig gestanden: in der Partnerschaftsecke. Jacken und Mäntel als Staubfänger in der Partnerschaftsecke des Schlafzimmers – nicht ideal. Ich bringe das irgendwie mit meinen bisherigen kurzlebigen Liebesbeziehungen in Verbindung. Hier stehen sie gut und stören keinen.“

„Und der Gummibaum“, fuhr sie fort, „steht jetzt dort, in der Partnerschaftsecke des Wohnzimmers. Das belebt das Ganze zusätzlich. Das macht unsere Beziehung richtig harmonisch.“

Die Akten, Ordner und der Drucker, die vorher dort platziert waren, standen aktuell an der Wand, die an die kiffenden Nachbarn angrenzte.

„Ich gebe zu, dass es hierbei ein Problem gibt“, schob Sabine nach. „Wenn ich ein Dokument ausdrucken will, muss ich den Drucker zum PC tragen.“

„Und ihn an den Strom anschließen und an den USB-Anschluss des Rechners. Verstehe“, ergänzte Holger.

„Das nehme ich gern in Kauf!“, beeilte sich seine Freundin zu sagen.

Holger goss sich ein weiteres Glas ein.

„Und hast du gesehen, auf dem Balkon?“ Sabine war richtig in Fahrt. „Dort habe ich eine kleine Schale mit Münzen hingestellt. Zur Stärkung der Geldecke.“

Holger wurde blass, erhob sich und eilte zum Balkon. „Es tut mir furchtbar leid“, stammelte er und ging dort in die Hocke. „Hätte ich das gewusst, dass das für die Geldecke – ich wusste es wirklich nicht. Es war ja dunkel.“ Er pickte einen Stummel nach dem anderen aus dem Schälchen. Gestern erst hatte er seine Zigaretten hier ausgedrückt.

„Die neuen Nachbarn sind verhältnismäßig jung.“ Holger saß wieder und versuchte, vom heiklen Thema Feng-Shui wegzukommen.

„Ja? Keine Ahnung, ich habe die bisher nicht gesehen.“

„Er so um die 40.“

„Oh, genau mein Alter“, schwärmte Sabine. Sie war noch nicht komplett über die Kippen in der Geldecke hinweg. Trotz PVC-Diät schenkte sie sich erneut ein. „Sieht er gut aus?“

„Ich kann ihn hochschicken, wenn ich runtergehe“, antwortete Holger bockig. „Und bleibe gleich da. Bei der Freundin.“

„Wieso, ist die 20?“, fragte Sabine höhnisch.

„Nein, 1,90, 64 Kilo.“


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