„Behindert sind wir ja alle irgendwo“

Sven kenne ich lange und hätte nicht gewusst, dass er eine Behinderung hat, wenn er es mir nicht gesagt hätte. In diesem Interview erzählt er, wie es ist, mit seiner Behinderung und einer Borderline-Störung zu leben.

Welche Behinderung hast du, Sven?

Ich habe eine leichte Gehbehinderung und rechtsseitig eine leichte Spastik.

Hattest du die schon immer?

Nein. Passiert ist das am 21.5.1979, als ich 7 war, bei einem schweren Verkehrsunfall; damals war ich sieben. Davon weiß ich selbst nicht mehr so viel; ich war gleich bewusstlos. Mein Herz ist im Hubschrauber einmal stehen geblieben. Das weiß ich alles aus Erzählungen. Ich kann mich auch nicht mehr daran erinnern, was in den vier Wochen vor dem Unfall war; das ist alles weg.

Seitdem hast du die Behinderung?

Ja, vorher war ich gesund.

Wie hat sich dein Leben dadurch verändert?

Ich lag erstmal sechs Wochen im Dornröschenschlaf, musste danach alles wieder lernen: essen, sprechen, laufen, alles Mögliche. Über die Organisation „Kinder helfen Kindern“ habe ich damals ein Dreirad bekommen, mit dem ich wieder Fahrrad fahren konnte. Das hat mich sehr gefreut.

Mein Leben hat sich nach dem Unfall um 180 Grad gedreht. Ich bin nicht mehr der Sven, der 1972 geboren wurde, 1979 wurde ich zum zweiten Mal geboren.

Denkst du, dein Leben wäre anders geworden, wenn das nicht passiert wäre?

Die Frage stelle ich mir immer wieder. Aber es bringt nichts, sich so etwas zu fragen. Ich bin froh, dass das Leben heute so ist, wie es ist. Dass ich so bin, wie ich bin. Es hätte schlimmer ausgehen können.

Welche Konsequenzen auf dein späteres Berufsleben hatte dein Unfall?

Ich wäre gern Polizist geworden. Oder Busfahrer, weil mein Vater auch einer war. Doch der hat mir gleich den Wind aus den Segeln genommen, meinte, ich dürfte mit meiner Behinderung nie den Führerschein Klasse 2 machen. Und Polizist wäre ohnehin nicht gegangen.

Durch die Borderline-Störung fehlen mir das Durchhaltevermögen und die Ausdauer. An diesen Punkten ist es immer wieder gescheitert. Ich hatte acht Monate einen Job und auf einmal ging gar nichts mehr.

Ehrenamtlich habe ich aber einen Sanitätsschein gemacht und eine Gruppe im Altenheim geleitet. Das war eine schöne Sache.

Du hast gerade deine Borderline-Störung erwähnt. Das hat aber nichts mit dem Unfall zu tun, oder?

Doch. Borderline kann durch ein traumatisches Erlebnis entstehen. Es ist bei mir die Folge eines Schädel-Hirn-Traumas. Dadurch bin ich emotional instabil.

Was ist Borderline genau und wie äußert es sich bei dir?

Bei Borderline taucht das Phänomen der Grenzüberschreitung auf: Der Borderliner überschreitet Grenzen. Meines Wissens ist der Begriff erst seit 1990 bekannt, wobei es die Störung schon immer gegeben hat. Früher hieß es halt anders.

Wie macht sich das bemerkbar … Selbstzerstörung, also Schneiden – was bei mir zum Glück nicht mehr so intensiv ist. Dann Angstzustände. Ich habe Angst vor größeren Menschenansammlungen, bin unsicher. Ich habe Zwänge, muss immer schauen, ob die Herdplatte aus ist, die Tür abgeschlossen. Auf Dauer ist das nervig.

Ich bin in Behandlung und lerne, mit der Erkrankung zu leben. Zum Beispiel habe ich Skills gelernt, um dem Schneidedruck entgegenzuwirken.

Was machst du dann?

Bei einer Kur habe ich alles ausprobiert, zum Beispiel Ammoniak riechen. Das hat aber nichts gebracht. Stattdessen mache ich Musik, spiele Gitarre, singe.

Wie geht es dir denn mit den beiden Beeinträchtigungen?

Gute Frage. Ich akzeptiere eher meine Borderline-Erkrankung als meine Behinderung. Wenn ich das Freunden erzähle, meinen die: „Wieso? Man sieht doch deine Behinderung gar nicht!“ Denen antworte ich dann: „Man sieht es nicht, aber ich sehe es jeden Tag“ – und muss damit leben. Ich humpele, was mir unangenehm ist. Viele Menschen, die mich auf der Straße humpeln sehen, denken: „Der Typ ist besoffen.“

Meinst du, die denken das wirklich?

Ja, ich bin der Meinung, dass das so ist.

Meinst du nicht, die denken: „Der humpelt einfach“?

Als Mensch mit Behinderung – egal, welche das ist – wird man oft schräg angeguckt. Und gerade wenn man eine psychische Erkrankung hat – Borderline, eine Depression oder einen Burnout –, wird man in eine Schublade gesteckt.

Woran merkst du das? Was sagen die Leute dann?

Sagen tun die nichts. Es sind eher die Gesten und die Mimik. Es ist nicht schwer, so etwas zu lesen.

Ich will nicht abstreiten, dass es so ist, habe aber selbst die Erfahrung gemacht, dass man, wenn man selbst zur Minderheit gehört, die Situation verschärft wahrnimmt. Weil der eigene Fokus darauf gerichtet ist. Kann das sein? Du denkst, der guckt dich komisch an, dabei denkt er: „Och, der Arme …“

Jaaa, ich werde es wahrscheinlich intensiver wahrnehmen, als es ist. Aber aus meiner Schulzeit kenne ich schon Hänseleien. Wenn man nicht zur kultivierten Norm gehört, hat man es schwer.

Wenn man nicht die Standardausstattung mitbringt?

Ja. (Lacht.) Richtig. Wenn man nicht gesund ist. Die Frage ist bloß: Wann ist man gesund? Behindert ist man, wenn man eine Brille trägt. Wenn man die dritten Zähne trägt. Das sind auch alles Behinderungen. Viele von uns haben eine Behinderung. Kein Mensch ist perfekt.

Wenn dich die Leute angucken, könntest du ja sagen: „Lass sie gucken“, oder?

Ich bewundere Menschen, die das können, kann es selbst aber nicht.

Du hattest bei Facebook kürzlich einen offenen Brief veröffentlicht, in dem du schreibst, du fühlst dich nicht ernst genommen. In welchen Situationen ist das so?

Da kann ich dir ein Beispiel nennen: Ich hatte jemandem mal erzählt, dass ich singe, doch er hat mich damit nicht ernst genommen. Irgendwann habe ich dann bei einem Lagerfeuer gesungen. Da hat er gemerkt, dass ich es draufhabe und auch Leute mitziehen kann. Erst dann hat er es geglaubt. Ich muss es also immer beweisen. Erst dann werde ich ernst genommen.

Du hast auch geschrieben, du würdest dir von vielen Menschen einen besseren Umgang mit beeinträchtigten Menschen wünschen. War etwas vorgefallen?

Ja, die Therapeutin meiner Freundin hatte zu ihr gesagt, sie würde jedem, der einen Borderliner kennenlernt, abraten, diese Bekanntschaft zu vertiefen. Den Satz fand ich ziemlich bekloppt.

Wenn du auf eine neue Person triffst – hast du das Gefühl, dass die Leute nichts mit dir zu tun haben wollen, sobald du sagst, du bist Borderliner?

Ja! Wie gesagt: Borderliner werden immer gleich in eine Schublade gesteckt. Es heißt immer: „Pass bei Borderlinern bloß auf! Die sind gefährlich.“ Und, und, und. Dabei ist das der größte Schwachsinn. Nicht jeder Borderliner schneidet an sich herum, nicht jede Erkrankung ist gleich. Man kann nicht alle über einen Kamm scheren. Früher waren überwiegend Frauen davon betroffen. Bei einer Reha in Bad Bramstedt habe ich ein Mädchen gesehen, das am ganzen Körper zerschnitten war; das ist schon krass. Mittlerweile sind aber genauso viele Männer Borderliner wie Frauen.

Angenommen, ich lerne jemanden kennen, der Borderline hat – was würdest du mir dann raten?

Gar nichts. Ich könnte dir da keinen Rat geben, würde ich auch nicht machen wollen. Viele Borderliner sind sensibel. Man muss ihnen gegenüber etwas feinfühliger sein.

Was würdest du dir von deinen Mitmenschen denn wünschen?

Ich würde mir wünschen, dass sie Behinderte – ob physisch oder psychisch – nicht in eine Ecke schieben. Dass diese Menschen nicht ausgeschlossen werden.

Da wären wir beim Thema Inklusion. Wie weit sind wir da deiner Meinung nach in Deutschland?

Natürlich hat sich seit meiner Schulzeit einiges geändert, anderes aber auch nicht. Man geht mittlerweile freundlicher auf Behinderte zu; das ist mir aber noch zu wenig. Da geht noch mehr.

Gibt es denn Leute, die sich von dir wegen deiner Behinderung abkehren?

Ja, so etwas habe ich schon erlebt. Als ich klein war, hat sich mein Bruder für mich eingesetzt, weil da Sachen kamen wie „Spasti! Behinderter!“, klar.

Wie findest du den Spruch, den man bei Auseinandersetzungen hin und wieder mal hört: „Bist du behindert, oder was?!“

Ich finde es ziemlich kacke, wenn jemand so redet, denn eine Behinderung ist eine Erkrankung, die jeden treffen kann. Behindert sind wir ja alle irgendwo. Hatte ich ja vorhin schon gesagt.

Klar, sprachlich gesehen wird man daran gehindert, „vollständig“ am Leben teilzunehmen. Jeder wird auf eine andere Art daran gehindert und ist damit anders „behindert“.

Wenn du auf deine 50 Lebensjahre zurückblickst: Was hättest du im Leben gern anders gemacht?

Ich wünsche mir manchmal, dass der Unfall nicht passiert wäre. Denn natürlich frage ich mich immer wieder, wie mein Leben dann verlaufen wäre. Wie wäre Sven von 1972? Auf der anderen Seite hätte ich die Menschen, die ich jetzt kenne, wahrscheinlich nicht kennen gelernt. Aber abgesehen davon kann ich dir die Frage, was ich anders gemacht hätte, nicht beantworten.

Bist du also zufrieden?

Nein, ich bin mit meinem Leben nicht wirklich zufrieden.

Wo ist noch Luft nach oben?

Ich hätte die Ängste gern nicht mehr, wäre gern sicherer, selbstbewusster.

Bringen deine Borderline-Störung und die Behinderung vielleicht auch gute Aspekte mit sich?

Die Musik. Seit meinem Unfall höre ich Elvis Presley. Ich singe, spiele Gitarre, habe früher Theater gespielt. Bei der Musik bin ich geblieben, schreibe Texte, trete gelegentlich mal auf. Musik ist mein Leben. Ohne Musik könnte ich mir mein Leben nicht vorstellen.

Warum Elvis?

Er ist der King. (Sven lacht.)

Das ist ein gutes Schlusswort. Ich danke dir für das ehrliche Gespräch, Sven.

Titelfoto: © iStock/littlehenrabi