Ein Klavier, ein Klavier!

Banausentum gehört an der Wurzel gepackt, jawohl! Dieser Meinung war ich, die ich „Was müssen das für Bäume sein?“ für das Frühwerk Prokofjews hielt, ich, für die neoelektronische Stücke wie „Die Herdplatte 2000 Grad“ zu den Meisterwerken zählten.

Klassische Musik sagt mir nicht viel – das haben Sie ganz richtig erkannt. Nun sollte sich das ändern. Wobei die Metamorphose von Banausin zur wahren Kennerin in einem denkbar ungünstigen Augenblick begann: Entweder hat er mich verlassen oder ich ihn – die Erinnerung ist verschwommen. Meine Stimmung war schlecht, sehr schlecht. Dennoch saß ich auf der Bank vor meiner Arbeitsstätte und wartete darauf, mit Kollegen in die Musikhalle zu fahren, um dort dem ersten Konzert der Klassik-Reihe beizuwohnen. Teamleiter Ralle kam vor die Tür, um eine zu schmöken.

„Ach du bist das, Andrea!“

„Ja.“

„Was sitzt du hier rum? Fährst nicht nach Hause?“

„Ich fahre heute mit Konrad und dem Rest zum Konzert.“

„Was hört ihr euch an?“

„Keine Ahnung. Ich sitze einfach hier, steige nachher bei Tine ins Auto und dann nehmen die Dinge ihren Lauf.“

Ralle nickte.

Ich war froh, dass Tine zu unserer Truppe gehörte – so musste ich auf der Fahrt nicht viel von mir geben. Sie erzählte in reinstem Hochsächsisch von ihrem früheren Arbeitsplatz, von ihrem früheren Wohnort, von Pippo, ihrem früheren Hund. Außerdem versicherte sie mir, dass die Entscheidung für das Abo richtig gewesen sei, die Musikhalle sei so schön.

„Wie in einer Kirsche sieht es da aus.“

Ich versuchte, mir vorzustellen, wie es in einer Kirsche von innen aussah – was für eine Art von Metapher war das?! Waren die Wände der Musikhalle rot, mit Samt beschlagen, war es ein Oval oder noch anders?

Beim Eintreten sah ich die Kirchenorgel.

Es galt, die nächsten zwei Stunden möglichst unbeschadet zu überstehen. Denn eigentlich wollte ich jetzt statt in einer Kirsche lieber in meinem Bett sitzen und Eis mit Sirup – vorzugsweise in der Geschmacksrichtung Strawberry Cheesecake – in mich hineinstopfen und dem Ex eine gehässige SMS nach der anderen schreiben. Am heutigen Abend waren fünf Sätze angekündigt; mittlerweile hatten wir es bis zum dritten geschafft. Beim letzten noch die über den Daumen gepeilten fünfzehn Minuten runtergezählt, geschafft. Ich erreichte meine Wohnung, ließ das Eis ausfallen, sonderte immerhin eine bissige SMS an den Ex ab und schlief ein.

Am nächsten Morgen sah die Welt schon besser aus. Auf der Arbeit machte ich mich verdient am Firmengeschirr, das ich aus der Spülmaschine nahm, in die Schränke einordnete, und das obwohl unsere Abteilung gar nicht dran war. Ralle trat hinzu, begrüßte mich mit einem „Na, wie war es gestern?“.

„Ganz okay.“

„Was habt ihr gehört?“

„Keine Ahnung.“

„Wer hat gespielt?“

„Weiß nicht. Du, da war ein Mann am Klavier, ein anderer hatte eine Geige in der Hand und irgendwie haben die was gespielt.“

Ralle wollte was sagen, folgte dem Impuls aber nicht.

Beim zweiten Konzert wusste ich, was mich erwartete, und hatte mir eine Strategie zurechtgelegt. Wenn manche Frauen beim Sex darüber nachdachten, dass sie noch Wäsche aufzuhängen hätten, warum sollte ich es hier, bei einer musikalischen Darbietung, nicht auch können? Der Ablauf der Restwoche war zu planen. Ich schloss die Augen, dachte nach und ließ mich berieseln. Es war erträglich.

Die Musiker hörten irgendwann auf zu spielen, die Türen wurden geöffnet, der Saal verteilte sich auf die Gänge – und mit ihm ich, Konrad, Tine und Stella, unsere britische Kollegin. Wir brachten Stella, die gerade im Urlaub gewesen war, mit Firmentratsch auf den neuesten Stand, sie jedoch interessierte eine andere Frage.

„Hast du geschlafen?“ Sie schaute in meine Richtung.

Wie jetzt? Sah ich so übel aus? Siebeneinhalb Stunden Schlaf waren es sicher gewesen. Die Angelsachsen waren doch sonst so diskret; es passte überhaupt nicht zu ihr, dass sie mich auf mein schlechtes Aussehen hinwies.

Sah ich wirklich so katastrophal aus? Ich schaute sie irritiert an, blickte zu den anderen, die verschmitzt grinsten. Auch sie hatten den gleichmäßigen Atem während des ruhigen Satzes bemerkt, die geschlossenen Augen. Nein, nein, ich war nicht eingenickt! Wie konnten sie nur so etwas von mir denken? Nach der Pause wollte ich es ihnen beweisen, hielt meine Augen demonstrativ offen. Doch es gab nichts zu sehen. Konrad hatte die Platzierung so gewählt, dass man gerade mal die Kopfspitzen der Musiker sah. Als erfahrener Konzertgänger wusste er, dass es sich nicht lohnte, Karten für 40 Euro zu kaufen, denn die hatten kaum Mehrwert, was die Sehqualität anging. Mit denen sah man vielleicht noch das Ohrläppchen der Musiker. Um auch die Gesichter erkennen zu können oder – wir werden mal extravagant – die Instrumente, musste man ganz andere Summen hinblättern oder sich – und das als Variante für diejenigen, die gerade nicht ihre Oma beerbt hatten – ein Opernglas zulegen. Kurz: Wir saßen auf den billigen Plätzen. So hatten wir es uns also in der sechsten Reihe des zweiten Rangs gemütlich gemacht; Tine musterte die Konzertgäste, prägte sich ihre Hinterköpfe ein, besonders den des vor ihr sitzenden Herren, der derart präsent war, dass sie, rechts an ihm vorbei, wohl nur den Bügel der Brille des Musikers ausmachen konnte, der sich da unten für uns alle richtig ins Zeug legte. Ich machte es wie Tine und schaute den Herrn auf dem Rang rechts von uns an, der allein inmitten von leeren Plätzen saß, ließ meinen Blick über die Decke schweifen, zurück zu dem Herrn. Aber Moment, da war kein Herr mehr. Wo war denn der hin? Hatte er sich unbemerkt rausgeschlichen? So ein Hund. Keine Hochachtung vor der Kultur. Und die Musiker spielten. Doch! Weiter oben, hinter der letzten Reihe bewegte sich auf Fußhöhe etwas. War der Mann ohnmächtig zusammengesunken? War es ein Tier? Oder ein Rollstuhlfahrer, von dem man den Kopf nicht sah, nur die Füße? Mein detektivischer Spürsinn war geweckt und ich hatte genug Beschäftigung für den Rest des Abends.

Beim dritten Konzert war ich ein halber Profi, versuchte es diesmal mit der meditativen Herangehensweise. Meditate yourself into the music. Die Wochenplanung stand, es gab keinen Ex, über die man nachdenken musste, und wie immer keine störenden Musiker, die man hätte anschauen müssen. Die Melodie setze ein, alles ging seinen geordneten Gang. Ich hatte mich in einen fokussierten Halbschlaf begeben, ähnlich wie bei der Gongmeditation, in der die Klänge der großen Schalen auf einen wirkten und man so immer tiefer in die Entspannung ging. Doch die da unten boten uns was. Messingbecken knallten aneinander; ich wurde jäh aus meinem Dämmerzustand gerissen. Mit weit offenen Augen starrte ich auf die Halbglatze vor mir. Dann einsetzender Applaus. Hinter uns schrie eine Dame: „Kein Applaus zwischen den Sätzen!“ Ordnung musste sein. Alles beruhigte sich. Ich schloss wieder die Augen, konnte mich diesmal nicht konzentrieren. Zu viel Brimborium, Unruhe in den Instrumenten; da wollte mal einer – Mahler in diesem Fall – total originell sein. Keine Ruhe zum Nachdenken, zur stillen Kontemplation, hier war man als Hörer gefordert.

Es folgten Standing Ovations. Mir war nicht klar, warum. Schaute also nach rechts zu Konrad: Der war ergriffen, hatte sich ebenfalls erhoben. Musste wohl außergewöhnlich gewesen sein, das Konzert. Ich stand auf und klatschte.

Nur noch drei Mal …

Titelfoto: © iStock/minling zhao