„Ewige Diskussionen sind einfach nur anstrengend!“

Yiming wohnt in Pforzheim und übersetzt vom Deutschen und Englischen ins Chinesische. Ich habe mit ihm über grüne Kappen gesprochen, die deutsche Zuverlässigkeit, das Studium des Maoismus und das Übersetzen.

Seit wann bist du in Deutschland – und warum bist du hier?

Seit 2008. Nach dem Abitur in China habe ich mit meinem Vater besprochen, was ich studieren sollte. Ich liebe Sprachen und war damals gut in Englisch, aber mein Vater meinte: „Englisch kann jeder.“ Damals gab es an meiner chinesischen Uni die Möglichkeit, Deutsch, Französisch, Russisch oder Japanisch zu studieren. Russisch und Japanisch waren allerdings auch nicht so sein Ding. Französisch fand er schon besser; da gibt es ja einige ehemalige Kolonien. Aber er hatte Angst, dass ich später in Afrika landen würde. Deswegen hat er mir das Deutschstudium nahegelegt, zumal Deutschland eine starke Wirtschaft hat. Ich fand das okay; im Grunde wäre mir jede Sprache recht gewesen. Ich habe Deutsch also aus praktischen Erwägungen heraus studiert.

Und wie ging es nach dem Studium weiter?

Auch wenn ich China gern mag, wollte ich weg, weit weg: nach Frankreich, Deutschland oder in die USA – egal wohin. Ich finde es toll, in eine fremde Welt einzutauchen. Deshalb bin ich nach dem Studium hierhergekommen.

Und haben sich deine Erwartungen erfüllt?

Ich hatte gar keine Erwartungen, wollte mich einfach überraschen lassen. Wie ein Baby, das zur Welt kommt, alles neu entdeckt und nach und nach erfährt, worüber die Menschen in dem Land sprechen, was sie denken und was sie machen.

Das ist schon ein großer Schritt, oder?

Ja, man muss den unbedingten Willen dazu haben; sonst wird es schwierig. Gerade wenn man viele Erwartungen hat, wird man zwangsläufig enttäuscht. Aber ich bin ein ziemlicher Optimist und akzeptiere es, wenn Dinge einfach anders sind als Daheim.

Du lebst ja in Pforzheim. Warum hast du dich ausgerechnet für diese Stadt entschieden?

Ursprünglich habe ich in Germersheim gewohnt. Ich hatte dort einen Kollegen, der Übersetzungswissenschaft studiert hat. Die Uni Germersheim ist in diesem Bereich ziemlich bekannt. Viele Absolventen arbeiten für die EU oder die United Nations. Ein Professor von der Uni war auch zufällig an der Universität Peking gewesen, bei ihm habe ich die Aufnahmeprüfungen abgelegt – und auch bestanden. Das war im Grunde Schicksal. Während des Übersetzungsstudiums meinte wiederum ein anderer Kollege, dass er von einer günstigen Wohnung in Pforzheim weiß. Und so bin ich in Pforzheim gelandet.

Das heißt, du hast in China Germanistik studiert und Übersetzungswissenschaft dann in Deutschland? Wie sieht denn konkret das Germanistikstudium in China aus?

Im Prinzip kann man nicht von einem Germanistikstudium sprechen. Es ist wie ein fundierter, intensiver Deutschkurs, der über vier Jahre geht. Wir haben bei null angefangen – und später ging es um ganz spezielle Terminologie: Tourismus, Wirtschaft, Technik und Literatur. Wir haben uns auch die aktuellen Nachrichten aus Deutschland bei den öffentlich-rechtlichen Sendern angeschaut, um auf dem neuesten Stand zu sein. Zudem ist Englisch Pflichtfach. Und dann gibt es Unterrichtseinheiten zum Maoismus, Marxismus usw. Da muss man durch, auch wenn im Grunde niemand Lust dazu hat.

War es von Anfang an dein Ziel, Übersetzer zu sein?

Nein, ich wollte eigentlich gar nicht freiberuflich arbeiten. Deshalb habe ich zuerst Praktika in Unternehmen gemacht und dort gemerkt, dass ein Bürojob nichts für mich ist. Ich finde es gut, wenn ich selbst Entscheidungen treffen kann. Zu der Zeit hatte ich eine Kommilitonin, die mich gefragt hat, ob ich ihr einige Übersetzungen abnehmen könnte. So hat es angefangen.

Was am Übersetzen findest du spannend?

Spannend ist, dass ich fast jeden Tag einen anderen Text vor mir habe: Heute ist vielleicht Hundefutter dran, morgen Mode und übermorgen sind es Autos oder Maschinen. Da ich sehr neugierig bin, finde ich das richtig gut.

Das heißt, du hast kein spezielles Fachgebiet, sondern übersetzt alles?

Genau. Zu Anfang hatte ich überlegt, ob ich mich spezialisieren soll oder doch breit gefächert übersetze. Beides hat Vor- und Nachteile. Und gerade die Coronakrise hat mir Recht gegeben: Kollegen, die sich auf Wirtschaft, Marketing oder Tourismus spezialisiert hatten, bekamen plötzlich keine Aufträge mehr. Andere wiederum waren Dolmetscher – aber auch da gab es keinen Bedarf, weil keine Delegationen mehr unterwegs waren und auch keine Touristen mehr kamen. Viele wurden von einem Tag auf den anderen arbeitslos. Auf der anderen Seite gab es nach wie vor Kunden aus dem Bereich Technik, die Maschinen in China verkaufen mussten. Oder Firmen, die ihre internen Newsletter ins Chinesische übersetzen lassen wollten. Ich hatte auf jeden Fall genug zu tun.

Du übersetzt auch im Bereich Marketing. Welche Schwierigkeiten gibt es da, vor allem im Hinblick auf das Chinesische? Welche Probleme tauchen immer wieder auf?

Man muss viel umformulieren, weil die beiden Sprachen unterschiedlich funktionieren. Viele Wortspiele und Sprichwörter existieren so überhaupt nicht im Chinesischen. Und natürlich kann man die dann nicht wörtlich übernehmen. Aber auch im Bereich der Technik ist es nicht immer einfach: Das Wort „Schleifmaschine“ setzt sich im Chinesischen nicht aus den Bestandteilen „schleifen“ und „Maschine“ zusammen. Dort heißt es „磨床“, wortwörtlich „Schleifbett“. Die Entsprechung für die Hinterachse in einem Auto ist „后桥“, rückübersetzt heißt es „Hinterbrücke“. Dies sind nur zwei Beispiele dafür, dass eine wörtliche Übersetzung im Chinesischen nicht funktioniert, was aber in der Kombination Deutsch–Englisch durchaus mal sein kann. Man muss wirklich gründlich recherchieren, um das treffende Wort zu finden, sonst wählt man etwas aus, was völlig ungebräuchlich ist.

Bei Übersetzungen geht ja ohnehin immer etwas verloren. Das heißt, im Chinesischen ist das noch krasser, ja? Was machst du, wenn ein Wortspiel sich nicht übersetzen lässt? Lässt du es dann weg oder denkst du über ein ähnliches Wortspiel nach? Gibt es im Chinesischen überhaupt Wortspiele?

Ja, die gibt es. Entweder versuche ich, ein ähnliches Wortspiel zu finden oder ich umschreibe es. Ein Beispiel wäre die Wendung „ein Unterschied wie Tag und Nacht“. Im Chinesischen heißt es „天壤之别“, also „ein Unterschied wie Himmel und Erde“. Dieses ist natürlich nur ein simpler Fall, bei dem mir ganz schnell etwas einfällt. An anderen Stellen muss ich länger nachdenken.

Stichwort wörtliche Übersetzung versus freie Übersetzung: Vom Englischen ins Deutsche beispielsweise kann sich ein Übersetzer dafür entscheiden, eher wörtlich oder eher frei zu übersetzen – wobei ich selbst meist frei übersetze. Wie ist das, wenn es ums Chinesische geht? Du übersetzt vermutlich immer frei – anders geht es für diese Sprachkombination nicht, oder?

Wortwörtliche Übersetzungen wären bei dieser Sprachkombination unbrauchbar. Auf der anderen Seite übersetze ich auch nicht ganz frei – das wäre dann Texten und hätte nichts mit dem Übersetzen zu tun. Ich versuche da eine Balance zu finden: so viele Informationen wie möglich mitzunehmen, aber an manchen Stellen doch umzuformulieren oder ein anderes Wort zu verwenden.

Du hast dich sicherlich auch mit dem Thema maschinelle Übersetzung beschäftigt. Für manche Textsorten funktioniert das beispielsweise in der Sprachkombination Deutsch–Englisch schon ganz gut. Wie sieht das bei Deutsch–Chinesisch aus? Hast du Angst, dass die Maschinen bald deinen Job übernehmen könnten?

Nein, habe ich nicht. Meist übersetze ich Marketingtexte – und die müssen einfach von einem Menschen übertragen werden, egal was für eine fortschrittliche Maschine das wäre. Auch im Bereich Technik versagen die Programme – die Satzstruktur ist okay, aber inhaltlich steht lauter Quatsch da. Deshalb mache ich mir im Hinblick auf maschinelle Übersetzung nicht so viele Sorgen.

Eine ganz praktische Frage: Wie funktioniert das Tippen auf der Tastatur?

Ich benutze eine ganz normale Tastatur, wie sie in Deutschland üblich ist. Dazu gibt es eine Software mit einer ganz speziellen Eingabemethode. Möchte ich zum Beispiel meinen Namen im Chinesischen darstellen, tippe ich nacheinander die Buchstaben g, a und n ein. Die Software verwandelt diese Buchstabenkombination in verschiedene Zeichen, die den Ton „gan“ in den verschiedenen Tonhöhen abbilden: gleichbleibend, steigend, fallend-steigend oder fallend. Aus den Zeichen, die mir das Programm dann vorschlägt, suche ich das richtige heraus.

Dadurch tippst du langsamer, oder?

Das Tippen selbst geht schnell, aber ich muss länger nach dem richtigen Zeichen suchen. Es gibt im Chinesischen etwa 5000 Zeichen, 2000 bis 3000 davon sind im täglichen Gebrauch. Bei manchen Kombinationen muss man ganz weit herunterscrollen, um das richtige Zeichen zu erwischen.

Inwieweit spielen kulturelle Eigenheiten beim Übersetzen ins Chinesische eine Rolle?

Hier hätte ich gleich ein Beispiel, das aber nicht sprachlich ist: Ein Kunde hatte als Werbegeschenk für den chinesischen Markt eine grüne Kappe entworfen. Was er nicht bedacht hat: Grüne Kappen sind in China ein absolutes No-Go. Denn wenn man die aufsetzt, gibt man sich als gehörnter Ehemann zu erkennen. Oder als betrogene Ehefrau. Kein Chinese würde diese Mütze tragen. – Ansonsten denke ich aber, dass die kulturellen Unterschiede im Laufe der Jahrzehnte abgenommen haben: Heutzutage verschenkt man in China zum Geburtstag wie hierzulande eine Flasche Wein oder Blumen – das war früher komplett unüblich. Viele Gepflogenheiten sind aus der Vergangenheit und werden heute seltener gepflegt. Wobei man nach wie vor Geld schenkt. Das halte ich auch für ziemlich praktisch. Denn dann kann der Beschenkte entscheiden, ob er das Geld spart oder für etwas ausgibt, was ihm Freude bereitet. Und er bekommt garantiert keinen Wein, den er gar nicht mag.

Aus welcher chinesischen Region kommst du eigentlich und was spricht man dort?

Ich komme aus dem Nordosten – Nordkorea ist gar nicht so weit weg. Man spricht dort Mandarin.

Was magst du an den beiden Sprachen Deutsch und Chinesisch?

Ich finde alle Sprachen toll, deshalb kann ich mich da gar nicht entscheiden. Aus diesem Grund lerne ich zurzeit nebenbei Französisch und Portugiesisch.

Wie kommt es, dass du Portugiesisch lernst?

Weil ich Portugal so gerne mag! 2015 war ich dort im Urlaub und es war Liebe auf den ersten Blick. Das Land hat mich fasziniert; deshalb wollte ich auch die Sprache lernen. Und Französisch lerne ich, weil Pforzheim fast direkt an der deutsch-französischen Grenze liegt. Deshalb ist es ganz praktisch, wenn man ein paar Wörter Französisch kann. Außerdem finden Franzosen es richtig gut, wenn jemand versucht, französisch zu sprechen.

Hast du Lieblingswörter im Deutschen und Chinesischen?

Nee … Aber mich würde interessieren, welches deine Lieblingswörter sind!

Hahaha, du bist gut. Ich bin hier nur für die Fragen zuständig!

Ganz spontan: Was fällt dir ein?

Ganz spontan fällt mir nichts ein! Dann schlage ich vor, wir lassen die Frage einfach ausfallen.

Einverstanden.

Nächste Frage: Was gefällt dir an der deutschen Kultur und was an der chinesischen?

Mittlerweile denke ich, dass beide Kulturen gar nicht so unterschiedlich sind. Bestimmte Charaktereigenschaften von Menschen sind in allen Kulturen zu finden, auch die Gefühle. Und ob man in Deutschland mehr Kartoffeln isst als in China, ist im Grunde egal – und eine sehr oberflächliche Betrachtungsweise. Man sagt auch, Deutsche seien ziemlich pünktlich. Das ist aus meiner Sicht relativ. Kommt darauf, mit welcher Kultur man das vergleicht. Im Vergleich zu mediterranen Ländern vielleicht. Wir Chinesen sind ebenfalls sehr pünktlich. Deutsche gelten auch als zuverlässig. Aber wenn man sich den Bau des Berliner Flughafens anschaut oder der Elbphilharmonie in Hamburg, wird einem klar, dass das nicht unbedingt so stimmt. Im Vergleich dazu wurde der neue Flughafen in Peking früher fertig als geplant – und vom Budget her war es eine Punktlandung. Dazu funktioniert er auch, wie er soll – was man vom Berliner Flughafen nicht ohne Weiteres behaupten kann. Deshalb denke ich, dass ich alles, was ich über deutsche Tugenden gelernt habe, vergessen kann. Die Realität ist anders. Wobei ich natürlich nichts Schlechtes über Deutschland denke.

Du meinst also, dass das jeweils Klischees sind, die man vom anderen Land hat? Und wenn man selbst vor Ort ist, sieht es ganz anders aus?

Ja, ich glaube so etwas nicht mehr, möchte stattdessen lieber aus erster Hand erfahren, wie es wirklich ist. – Man sagt immer, die Chinesen seien genauso zurückhaltend wie die Japaner, würden nicht sagen, was sie denken. Natürlich sage ich niemandem ins Gesicht, wenn ich ihn nicht mag. Aber das tut auch niemand in Deutschland.

Was magst du nicht an deinem Heimatland und was nicht an Deutschland?

Ich mag keine Diskussionen und keinen Streit, wobei es das in beiden Ländern gibt. Mich stört das, was man hierzulande „Diskussionskultur“ nennt. Man diskutiert lange, agiert aber nicht, bleibt ewig auf der Diskussionsebene. Und anschließend diskutiert man über die Diskussion. Weißt du, was ich meine?

Ja, ich muss da gleich an die vielen Meetings in Unternehmen denken.

Genau. In China ist das aber auch so. Deshalb bin ich ja der Meinung, dass Kulturen sich im Grunde ähneln. Ich halte diese ewigen Diskussionen für sinnlos und überflüssig; sie sind auch anstrengend. Wenn eine Situation eintritt, wird es Leute geben, die anders denken. Das muss man einfach akzeptieren – und nicht immer diskutieren. Deshalb beteilige ich mich gar nicht erst an solchen Gesprächen.

Was können Deutsche von Chinesen lernen – und umgekehrt?

Eins vorweg: Ich will hier nicht pauschalisieren, wenn ich von Deutschen oder Chinesen spreche. Deutsche können von Chinesen lernen zu agieren: einfach die Ärmel hochkrempeln und machen. Ich denke hier wieder an den Berliner Flughafen. Umgekehrt könnten wir Chinesen uns etwas mehr Lässigkeit von den Deutschen und allgemein von den westlichen Ländern abgucken. Wir sollten lernen, das Leben zu genießen. In China arbeiten alle sehr viel – natürlich gibt’s auch Faulenzer, aber insgesamt sind wir schon fleißig. Das Ziel ist, möglichst viel Geld zu verdienen, um ein besseres Leben zu haben. Aber arbeiten ist nicht alles; ich denke, man sollte auch mal einfach nur das Leben genießen.

Welchen Tipp hast du für Leute, die Chinesisch lernen möchten? Wie sollen sie das Studium dieser nicht ganz einfachen Sprache anpacken?

Nach China gehen! Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es nichts Besseres gibt. Ich selbst habe wie bereits erwähnt Germanistik in China studiert und dort an wirklich umfassenden Deutschkursen teilgenommen. Wörter wie „Atomwaffen“, „Bruttoinlandsprodukt“ oder „Universal-Fräsmaschine“ gehörten zu meinem Wortschatz. Aber als ich in Deutschland ankam, hatte ich Schwierigkeiten, mit den Nachbarn über alltägliche Dinge zu sprechen. Das sprachliche Alltagswissen fehlte; so etwas wurde uns nicht beigebracht. Wenn man Chinesisch wirklich beherrschen möchte, muss man nach China oder Taiwan gehen. Oder Singapur, wo ebenfalls viele chinesisch sprechen. Oder aber jemand lernt die Sprache bei mir. (Er lacht.)

Danke für das Gespräch, Yiming.

Wenn dir das Interview gefallen hat und du entweder Chinesisch bei Yiming lernen oder von ihm etwas übersetzt haben möchtest: Hier findest du sein Profil.

Oder drehen wir den Spieß um: Wie ist es, als Deutscher in China zu leben. Hier geht es zum Text „Wie im Paradies“: Herr Müller in China.

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